Kolonialismus und Nationalsozialismus
Die Debatte um (Dis-)Kontinuitäten
Welche Bedeutung hatte der (deutsche) Kolonialismus für den Nationalsozialismus? Diese Frage ist der Kern einer mitunter hitzigen Debatte, die seit einigen Jahren unter Historiker geführt wird. Eine wichtige Rolle spielt dabei der Kolonialkrieg der deutschen Schutztruppe 1904-08 in Deutsch-Südwestafrika gegen die Herero und Nama. War dieser Krieg als Genozid ein Vorläufer des NS-Vernichtungskrieges oder nicht? Inwieweit kann der deutsche Ostfeldzug im Zweiten Weltkrieg als Kolonialkrieg gelten? Ist der Genozidbegriff geeignet, um Megaverbrechen wie den Herero- und Namakrieg einerseits und den nationalsozialistischen Mord an den europäischen Juden andererseits zu beschreiben?
Diese Fragen waren Gegenstand eines Kolloquiums am 7.2.2008 und eines Seminars am 8.2.2008 an der Universität Freiburg, zu denen zwei profilierte Protagonisten dieser Debatte eingeladen waren: der Kolonialhistoriker Jürgen Zimmerer (Universität Sheffield) und seine Kritikerin Birthe Kundrus, ebenfalls Historikerin (Hamburger Institut für Sozialforschung). Wir präsentieren hier die ungekürzten Vortragsmanuskripte von Zimmerer und Kundrus sowie die sich daran anschließenden Diskussionen. Kurzfassungen der Vorträge und Diskussionsbeiträge erschienen in iz3w 309 und 310.
Zur Einführung in die Thematik eignen sich zwei weitere Beiträge, die im Kontext der Veranstaltung entstanden. Philip Geck/ Anton Rühling zeichnen die bisherige Debatte über die Frage nach, ob und inwieweit der deutsche Kolonialismus als “Vorläufer des Holocaust” gelten kann. Jörg Später beschäftigt sich mit dem politischen Kontext der Kontinuitätsdebatten um Kolonialismus und Nationalsozialismus und der Frage, warum sie so erhitzt geführt werden.
die iz3w-Redaktion
Philip Geck und Anton Rühling: Vorläufer des Holocaust? Die Debatte um die (Dis-)Kontinuität von Kolonialismus und Nationalsozialismus (iz3w 308)
Jörg Später: Gegenläufige Erinnerungen. Historizität und politischer Kontext der Debatten um Kolonialismus und Nationalsozialismus (iz3w 308)
Jürgen Zimmerer: Der erste deutsche Genozid. Zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust (Vortragsmanuskript)
Birthe Kundrus: Entscheidende Unterschiede. Für die Frage nach den Verbindungen zwischen Kolonialismus und NS ist der Genozid-Begriff wenig hilfreich (Vortragsmanuskript)
Podiumsdiskussion (Transkription)
Seminar (Transkription)
Vorläufer des Holocaust? Die Debatte um die (Dis-)Kontinuität von Kolonialismus und Nationalsozialismus (iz3w 308) von Philip Geck und Anton Rühling
Angestoßen wurde die Debatte über den Zusammenhang von deutschem Kolonialismus und Nationalsozialismus vor allem vom Kolonialhistoriker Jürgen Zimmerer. Er kam nach intensiver Auseinandersetzung mit dem deutschen Kolonialkrieg gegen die Herero und Nama zu dem Schluss, dass es sich hierbei um den “ersten Genozid des 20. Jahrhunderts” gehandelt habe. Zimmerer sieht in dem Krieg einen “ultimative[n] Tabubruch – zu denken und danach zu handeln, dass andere Ethnien einfach vernichtet werden können” 1. Dieser Genozid sei ein “Vorläufer des Holocausts”. Dabei betont Zimmerer die große öffentliche Resonanz, die der Krieg bei den deutschen Zeitgenossen hervorrief und die sich im Erfolg von Kolonialliteratur widerspiegelte. Die Erfahrung der deutschen Truppen in Südwestafrika, die allgemeine Kolonialbegeisterung im Deutschen Reich sowie personelle und institutionelle Kontinuitäten schufen laut Zimmerer ein “kulturelles Reservoir”, aus dem der Nationalsozialismus schöpfen konnte. 2
Zimmerer will den Nationalsozialismus nicht nur auf koloniale Erfahrungen zurückführen, doch er sieht den Südwestafrikakrieg als “wichtigen Ideengeber” 3, als “Bindeglied” 4 zwischen kolonialer Gewalt und den NS-Vernichtungsexzessen. Auch wenn Zimmerer die unterschiedliche Rolle des Staates in Kolonialismus und Nationalsozialismus anerkennt, sieht er die nationalsozialistischen Verbrechen als “radikalste Ausprägung” in der Geschichte des Völkermords. Beide Kriege fielen somit unter die gemeinsame Kategorie des Genozids.
Zustimmung und Kritik
Mit seinen Thesen fand Zimmerer einige Zustimmung. Auch Henning Melber und Reinhart Kößler sehen Kontinuitäten des deutschen Kolonialismus und stellen weitere deutsche Kolonialkriege zur Diskussion. In einer ganzen Serie von Kriegen, ob in Südwestafrika, Ostafrika oder Kamerun, sei der Völkermord zumindest als Möglichkeit in Betracht gezogen worden. Im Zuge der Postcolonial Studies postulieren Kößler / Melber eine Wechselwirkung zwischen Kolonien und Europa. Koloniale Herrschaftspraxis und Ideologie seien ein wichtiges Element auf dem Weg zum Dritten Reich. 5
Die Verbindungslinien, die Zimmerer zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus zeichnet, haben heftigen Widerspruch herausgefordert. Kritiker der Kontinuitätsthese wie Birthe Kundrus greifen Zimmerers Argumentation gleich im Ansatz an und bezweifeln, ob es sich im Herero und Nama-Krieg überhaupt um einen Genozid gehandelt habe. Zimmerer beruft sich in seiner Argumentation auf die UN-Genozidkonvention, für die eine Intention der Täter zur Vernichtung einer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe ausschlaggebend ist. Es ist jedoch umstritten, ob der Wille zur Vernichtung wirklich gegeben war. Für die amerikanische Historikerin Isabel Hull liegt der Grund für die ausartende Gewalt des Kolonialkrieges in Südwestafrika in der deutschen Militärkultur, die den totalen militärischen Sieg forderte und dabei zerstörerische Tendenzen entwickelte, ohne dass eine totale Vernichtung geplant war. Die Proklamation des deutschen Befehlshabers von Trotha, in der er die Herero praktisch für vogelfrei erklärt, sei ex post facto erfolgt. Schon davor habe das – nach damaligen Maßstäben – Versagen der deutschen Truppen die Gewaltspirale in Gang gesetzt. 6 Der Südwestafrikakrieg wird in dieser Lesart zu einer aus dem Ruder gelaufenen Strafaktion und nicht zu einem intendierten Völkermord. 7
Robert Gerwarth und Stephan Malinowski sehen ein weiteres Problem in der Argumentation Zimmerers. Auf der einen Seite untersuche Zimmerer im Sinne der Postcolonial Studies die Verbindungen zwischen europäischem Kolonialismus und dem Nationalsozialismus, auf der anderen Seite konzentriere er sich vor allem auf einen deutschen Kolonialkrieg und rufe so Erinnerungen an die deutsche Sonderwegsthese wach. Denn eingeordnet in den Kontext des westlichen Kolonialismus verliere der Südwestafrikakrieg seinen paradigmatischen Charakter – und ohne den “Tabubruch” werde Zimmerers These hinfällig. 8 Die strukturell ähnliche Kolonialpolitik der Briten und Franzosen habe nicht zu faschistischen Staatsformen geführt, stellt auch Pascal Grosse heraus. 9
Die Kritiker der Kontinuitätsthese sind sich darin einig, dass der Kolonialkrieg in keinem Verhältnis zu den Dimensionen des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges steht. Während in Südwestafrika wenige Tausend Soldaten zum Einsatz kamen, waren im Zweiten Weltkrieg bis zu 18 Millionen Soldaten beteiligt. Auch personelle Kontinuitäten wie die des General Lettow-Vorbeck, der als kolonialer Kriegsheld in der Weimarer Republik zum Idol der Rechten wurde, gehörten zu den Ausnahmen. Als viel entscheidender sehen die Kritiker den Ersten Weltkrieg mit seinen einschneidenden Veränderungen, den Zimmerer in seiner Argumentation nicht berücksichtige.
Ostland gleich Kolonialland?
Im Rahmen dieser Debatte wird noch eine weitere Fragestellung diskutiert: War der nationalsozialistische Krieg gegen die UdSSR und Polen ein kolonialer Eroberungskrieg? In Konzepten wie “Rasse” und “Raum” sieht Zimmerer die grundlegenden Parallelen zwischen europäischem Kolonialismus und der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik; hier geht er über den südwestafrikanischen Kontext hinaus. Ein rassistisches Weltbild und die damit verbundene Hierarchisierung der Ethnien bildete die Grundlage für eine nach “Lebensraum” strebende Ideologie. Sowohl der Kolonialismus als auch der Nationalsozialismus griffen in ihrer Eroberungs- und Beherrschungspolitik auf dieses Denken zurück. Zimmerer interpretiert deshalb das “Ostland” als Kolonialland und sieht strukturelle Ähnlichkeiten zum Südwestafrikakrieg: “Die Einordnung als ‚Rassenkrieg’, das Abdrängen in lebensfeindliche Gegenden, die Zerstörung der Nahrungsgrundlagen, die summarischen Exekutionen und die Vernichtung durch Vernachlässigung sind deutliche Parallelen.” 10 Die asymmetrische Kriegsführung außerhalb der eigenen Staatsgrenzen und die Entmenschlichung des Gegners seien weitere Gemeinsamkeiten zwischen den europäischen Kolonialkriegen und dem NS-Krieg.
Letzteres gestehen auch Gerwarth und Malinowski zu. Im Nationalsozialismus fehle jedoch die Ambivalenz des Kolonialismus, der immer zwischen Entwicklung und Vernichtung geschwankt habe. Während die Kolonialherrschaft Kompromissstrukturen wie etwa den Aufbau lokaler Eliten entwickelt habe, sei die nationalsozialistische Vernichtung der osteuropäischen Länder “nicht Mittel, sondern Zweck” 11 gewesen. Hier, so Gerwarth und Malinowski, endeten die Parallelen. Zudem sei das NS-Regime ein neuer Staatstypus, in dem die Vernichtung im Einklang mit der Politik war, während es im Kolonialismus politische Kontrolle und Opposition gab.
Methodische Überlegungen
Die Debatte hat auch methodische Grundfragen der Geschichtswissenschaft aufgeworfen. Birthe Kundrus verweist auf die sehr unterschiedlichen Begriffe der Kontinuitätsthese. Egal ob von “Traditionen”, “Vorläufern”, “strukturellen Ähnlichkeiten” oder “Kontinuitäten” gesprochen werde – diese Schlüsselbegriffe blieben mehrdeutig. Oft werde ein kausaler Zusammenhang impliziert und nicht berücksichtigt, dass Gesellschaften selbst Traditionen produzieren. Für Kundrus ist die Rezeption in der Gegenwart wichtiger als Beharrungskräfte aus der Vergangenheit. Deshalb plädiert sie dafür, von “Transfer” zu sprechen, wenn das NS-Regime auf koloniale Begrifflichkeiten wie “Konzentrationslager” zurückgreift, diese jedoch auf die eigene Situation anwendet. 12
Zudem kritisiert Kundrus die Verwendung des Genozid-Begriffes, der zwar zu wertvollen Fragestellungen geführt habe, mit seiner begrenzten Definition jedoch zu stark einenge. Der Südwestafrikakrieg und der Ostfeldzug seien einzigartige historische Phänomene, die sich nicht unter der Kategorie Genozid vereinen ließen. Beide ähnelten sich in ihrer entgrenzten Gewalt, bei denen der situative Charakter überwogen habe – unabhängig von Kontinuitäten und Transfers. 13
Zimmerers These hat den deutschen Kolonialismus neu zur Diskussion gestellt. Sein Versuch, dessen Bedeutung für das NS-Regime an konkreten Beispielen festzumachen, bleibt umstritten. Die weithin anerkannte Beziehung zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus ist nach wie vor schwer zu fassen. Der Vergleich regt jedoch an, das jeweilig Spezifische herauszuarbeiten und neu darüber nachzudenken, welche Rolle mögliche Vorläufer und situative Elemente im Nationalsozialismus gespielt haben.
Anmerkungen:
1 Jürgen Zimmerer: Holocaust und Kolonialismus. Beitrag zu einer Archäologie des genozidalen Gedankens, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51 (2003), S. 1119.
2 Jürgen Zimmerer: Rassenkrieg und Völkermord. Der Kolonialkrieg in Deutsch-Südwestafrika und die Globalgeschichte des Genozids, in: Genozid und Gedenken. Namibisch-deutsche Geschichte und Gegenwart, hrsg. v. Henning Melber, Frankfurt a. M. 2005, S. 48.
3 Zimmerer: Holocaust und Kolonialismus, a.a.O., S. 1119.
4 Jürgen Zimmerer: Krieg, KZ und Völkermord in Südwestafrika. Der erste deutsche Genozid, in: Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904-1908) in Namibia und seine Folgen, hrsg. v. Jürgen Zimmerer und Joachim Zeller, Berlin 2003, S. 62.
5 Reinhart Kößler/ Henning Melber: Völkermord und Gedenken. Der Genozid an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika 1904-1908, in: Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Irmtrud Wojak und Susanne Meinl, Frankfurt a. M. 2004, S. 37-75.
6 Isabel V. Hull: Absolute Destruction. Military Culture and Practices of War in Imperial Germany, Ithaca und London 2005, S. 55; Birthe Kundrus: Kontinuitäten, Parallelen, Rezeptionen. Überlegungen zur “Kolonialisierung” des Nationalsozialismus, in: Werkstatt Geschichte 43 (2006), S. 45-62.
7 Boris Barth: Genozid. Völkermord im 20. Jahrhundert. Geschichte, Theorie, Kontroversen, München 2006, S. 131.
8 Robert Gerwarth/ Stephan Malinowski: Der Holocaust als “kolonialer Genozid”? Europäische Kolonialgewalt und nationalsozialistischer Vernichtungskrieg, in: Geschichte und Gesellschaft 33 (2007), S. 439-466.
9 Pascal Grosse: What Does German Colonialism have to do with National Socialism. A Conceptual Framework, in: Germany’s Colonial Past, hrsg. v. Eric Ames u.a., Lincoln u. London 2005, S. 115-134.
10 Zimmerer: Krieg, KZ und Völkermord in Südwestafrika, a.a.O., S. 60.
11 Gerwarth/ Malinowski: “kolonialer Genozid”?, a.a.O., S. 458.
12 Kundrus: Kontinuitäten, a.a.O.
13 Birthe Kundrus/ Henning Strotbek: “Genozid”. Grenzen und Möglichkeiten eines Forschungsbegriffs – ein Literaturbericht, in: Neue Politische Literatur 51 (2006), S. 397-423.
Philip Geck und Anton Rühling studieren Geschichte in Freiburg
.Jörg Später: Gegenläufige Erinnerungen.
Historizität und politischer Kontext der Debatten um Kolonialismus und Nationalsozialismus (iz3w 308)
Kontinuitätsdebatten um den Nationalsozialismus führten bereits die Zeitgenossen. In Großbritannien und den USA fragte man sich, was der Grund dafür sei, dass die Deutschen fortwährend ihre Nachbarn überfielen und wieso eine zivilisierte Nation sowohl einen Goethe als auch einen Hitler hervorbringen konnte. Man suchte nach geistigen Traditionen, nach Vorläufern und konstruierte Ahnenreihen, die bis Nietzsche, Luther oder sogar Hermann dem Cherusker zurückreichten.
Die Frage “wie konnte es zu 1933 kommen?” beschäftigte auch deutsche Historiker unmittelbar nach 1945, meistens, um bestimmte deutsche Traditionen von der Anklage des “Auslands” freizusprechen. In den 1960er Jahren formulierte dann Fritz Fischer die These vom ersten deutschen Griff nach der Weltmacht während des Kaiserreiches – dem, so die Logik des Arguments, im Dritten Reich der zweite folgen sollte. Die Bielefelder Sozialhistoriker um Hans-Ulrich Wehler begaben sich um 1970 auf der Suche nach dem deutschen Sonderweg zu 1933 ins 19. Jahrhundert – um nicht wieder zurückzukehren, mit Ausnahme des Mentors, der jedoch dann den wenig sozialhistorischen Interpretationsansatz des ‚Charisma des Führers’ zur Erklärung des Nationalsozialismus bemühte.
Unter heutigen Zeithistoriker besteht so etwas wie ein Konsens darüber, dass der Erste Weltkrieg, also eine vorwiegend europäische Angelegenheit, die “Urkatastrophe” des “Jahrhunderts der Extreme” gewesen sei, mithin auch der Wegbereiter des Nationalsozialismus. Die Tat der Judenvernichtung wird dabei oft als “Zivilisationsbruch” (Dan Diner) behandelt, also als etwas Singuläres, eine Zäsur, die den Fluss der Geschichte unterbricht. Mit dem Begriff ist gemeint, dass der bürokratisch organisierte und zum Teil industriell durchgeführte Massenmord die Widerlegung einer Zivilisation bedeute, deren Denken und Handeln einer Rationalität folge, die ein Mindestmaß antizipatorischen Vertrauens voraussetze. Die Annahme, dass der Mord an den Jüdinnen und Juden einer Gegen-Rationalität oder einer “Terrorratio” (Jan Philipp Reemtsma) gefolgt sei, ist Ausdruck der Opferperspektive. Diese fragt nämlich in der Regel nicht: “Wie ist es eigentlich gewesen?” oder “Wie war es eigentlich möglich?”, sondern: “Warum ausgerechnet wir?” Sie findet die Antwort im Antisemitismus und konstatiert eine historische Krise. Nur in der Psyche der Opfer lässt sich die Gegenrationalität der Täter eruieren. Dan Diner hat dies anhand des Beispiels der Judenräte verdeutlicht: Diese spekulierten darauf, dass die Handlungen der Nazis auf Nützlichkeitserwägungen, etwa die Ausbeutung von Arbeitskraft, beruhen würden. Deshalb kooperierten sie – und führten die Juden ihrer Ermordung entgegen.
Wo kam das her?
Stimmen, die im deutschen Kolonialismus die Wurzeln des Nationalsozialismus bestimmten, waren dagegen rar, obwohl Hannah Arendt neben dem Antisemitismus den Imperialismus und die in Afrika “erprobten” Konzepte von Rasse und Bürokratie als einen “Ursprung totaler Herrschaft” ausmachte. Arendts Klassiker von 1951 wurde erst rund 15 Jahre später wieder aufgegriffen, als einerseits der DDR-Historiker Horst Drechsler und andererseits der westdeutsche Afrika-Historiker Helmut Bley den Massenmord an den Herero und Nama untersuchten. Vor allem Letzterer drehte die Frage um: Nicht mehr “Wo kommt das her?”, sondern “Wo führt koloniale Gewalt hin?” war nun erkenntnisleitend. Bley war die Wechselwirkung zwischen kolonialer Erfahrung, zeitgenössischen politischen und sozialen Ordnungsvorstellungen sowie der Anwendung und Weiterentwicklung moderner Herrschaftstechniken und ihrer Konsequenzen für das Zusammenleben der Menschen wichtig: “Afrikaner und Deutsche sind in diesem erbitterten Konflikten verändert worden.”
Die Neue Linke nach 1968 nahm diese Perspektive im Bemühen auf, den Kapitalismus als materiale Grundlage sowohl von Kolonialismus/ Imperialismus einerseits als auch von Faschismus andererseits zu bestimmen. Zum Beispiel untersuchte Peter Schmitt-Egner, der sich in einem studentischen Diskussionszusammenhang mit Dan Diner, Kanan Makiya und Tariq Ali bewegte, den Zusammenhang von Kolonialismus und Faschismus: “Die historische Kontinuität und strukturelle Affinität von Kolonialismus und Faschismus wird implizit und explizit im welthistorischen Zusammenhang des Imperialismus im Allgemeinen und des deutschen Kolonialismus im Besonderen dargestellt.” Das Argument der antikolonialen Kritiker der 1960er Jahre wie Frantz Fanon, Albert Memmi und Aimé Césaire, der Kolonialismus sei die konstitutive Außenseite des Kapitalismus und der Faschismus ein nach innen gekehrter Imperialismus, wurde hier wirkungsmächtig. Faschismus, Kolonialismus und Imperialismus wurden hier als ein kausaler Zusammenhang begriffen und allesamt auf den Kapitalismus zurückgeführt.
Mitte der 1980er Jahre wurde die eher theoretische und politische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus durch die empirische Erforschung von Täter, Taten und Tatorten der Judenvernichtung abgelöst. Die koloniale Erfahrung spielte dabei keine Rolle. Generell herrschte in Deutschland hinsichtlich des eigenen, als kurz empfundenen und zeitlich weit entfernten kolonialen Engagements die Devise: “Wir nicht, die anderen auch” (so Andreas Eckert). Gerade wegen Auschwitz wollte man an kolonialen Gewaltexzessen nicht auch noch schuld sein. Erst seit einigen Jahren ist über den Umweg der Postcolonial Studies die “situation coloniale” als mögliches Laboratorium von entgrenzter Gewalt, ideologischen Raum- und Rassekonstruktionen und imperialen Herrschaftsstrategien wiederentdeckt worden. Eine wichtige Rolle dafür spielten auch der Aufstieg transnationaler Geschichtsschreibung und vergleichender Genozidforschung, die Enthistorisierung des Holocaust als einer moralischen Ikone von Gut und Böse, der verstärkt geführte Menschenrechtsdiskurs und die Identitätspolitik von Opfern historischen Unrechts.
Diese Verweise auf die koloniale Situation sind allerdings von den NS-Historiker bislang nicht aufgegriffen worden, was bei denjenigen Historiker, die sich mit Kolonialkriegen beschäftigen, auf Unverständnis stößt. Hier treffen offensichtlich unterschiedliche Wissenserfahrungen und -traditionen aufeineinander, oder um es mit Dan Diner zu sagen: “gegenläufige Gedächtnisse”.1
Befreiung oder Unterdrückung?
Die gegenläufigen Erinnerungen erklären nicht nur die Konkurrenz zwischen Kolonial- und NS-Historiker und den jeweiligen Opferperspektiven, sondern sind auch Subtext in vielen politischen Debatten, etwa über Israel, Islam oder Multikulturalismus. Ein Blick zurück auf die unmittelbare Nachkriegszeit zeigt, wie sich solche Diskurse herausbildeten. Nehmen wir den 8. Mai 1945: Dieser Tag ist in das westliche Gedächtnis als Tag der Befreiung eingegangen, als Überwindung von Nationalsozialismus, Krieg und dessen, für was “Auschwitz” steht: extreme Gewalt, Rassismus, Antisemitismus. An jenem Tag demonstrierten in den algerischen Städten Sétif und Constantine Hunderttausende für ein unabhängiges, freies Algerien. Die Franzosen, die gerade noch algerische Soldaten für einen freiheitlich-demokratischen Krieg gegen Nazideutschland engagiert hatten, schlugen die Demonstration nieder und töteten Zehntausende. In einer antikolonialen Perspektive kann dieser 8. Mai also als Tag der erneuten Unterdrückung erscheinen.
Gerade unter arabischen Intellektuellen ist das Bewusstsein über dieses Auseinanderklaffen zwischen dem westlichen (und jüdischen) 8. Mai und dem antikolonialen 8. Mai im Laufe der Jahrzehnte wirkungsmächtig geworden. Verstärkt wurde das Auseinandertreten der Opfer nationalsozialistischer und kolonialer Gewalt durch die konkurrierenden Interpretationen des Mords an den Jüdinnen und Juden. Drei Jahre nach Kriegsende fielen symbolisch zwei Ereignisse fast nahezu zusammen, die diese Kluft vertiefte und verdeutlichte: die Gründung des Staates Israel auf der einen Seite und die Erklärung der Menschenrechte in Verbund mit der UN-Genozidkonvention auf der anderen Seite. Die mit Gewalt verbundene Errichtung eines jüdischen Staates im mehrheitlich arabischen Palästina, die als kolonialistischer Akt gedeutet wurde, trug die Botschaft in sich: Nie wieder soll Juden das geschehen, was ihnen geschah – zumindest nicht ohne Gegenwehr. Die Antwort auf Auschwitz war eine partikularistische: Die Welt hat sich nicht verändert, aber wir Juden sind nun wehrhaft. Die “Kolonisierten” aber sahen sich fortan als “Opfer der Opfer”.
Die Erklärung der Menschenrechte und die Genozidkonvention waren dagegen eine universalistische Antwort auf “Auschwitz”: Nie wieder soll “dem Menschen” das geschehen, nie wieder darf eine religiöse, rassische oder kulturelle Gruppe vernichtet werden. Dass
ein Jude und Überlebender des Holocaust, Raphael Lemkin, den Genozidbegriff prägte und mit der “rassischen Gruppe” die Juden gemeint waren (ohne diese Abstraktion wäre
die Konvention nicht durchsetzbar gewesen, genauso wenig, wenn politischer Genozid oder Klassengenozid aufgenommen worden wären), änderte nichts daran, dass die “jüdische Erfahrung” verallgemeinert worden ist. “Auschwitz” gehörte nicht mehr nur den Juden (oder den Deutschen), sondern allen Unterdrückten, Ermordeten und “Verdammten dieser Erde” (Fanon).
Der ideologische Konflikt zwischen Kapitalismus und Kommunismus im Kalten Krieg hielt die “gegenläufigen Erinnerungen” in einer Latenzphase, wenngleich sie immer wieder durchbrachen, etwa als 1974 der Zionismus vor der UNO-Vollversammlung als Rassismus verurteilt und Israel damit auf die “Naziseite” gerückt wurde, was natürlich für Juden eine Ungeheuerlichkeit war. Der Clash der Perspektiven dauerte an, befeuerte das antisemitische Unbewusste der antizionistischen Neuen Linken der 1970er Jahre und fand in den 1980er und den 1990er Jahren Eingang in akademische Interpretationen der historischen Gewalterfahrungen – im Begriff des “Zivilisationsbruches” einerseits und der postkolonialen Kritik andererseits.
Symbol für das Böse
Der Genozidbegriff, der nun Stein des Anstoßes in der Debatte um eine Kontinuität zwischen deutschem Kolonialismus und Nationalsozialismus ist, kam durch eine weitere Entwicklung der 1990er Jahre wieder ins Spiel (nachdem er während des Kalten Krieges keine Rolle spielte): der Sakralisierung des Holocaust. Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wurde in der Geschichtswissenschaft einerseits endlich der Mord an den Jüdinnen und Juden als das entscheidende Ereignis des Zweiten Weltkrieges entdeckt und erforscht. Vorher galt er als Kriegstragödie unter anderen oder ging in Faschismus- und Totalitarismusdebatten unter. Andererseits erging man sich in verallgemeinernden Rückschauen wie “Jahrhundert der Extreme”, “Jahrhundert der Gewalt” oder “Jahrhundert der Lager”. Einerseits wurden endlich Taten, Täter und Tatorte des Mordes an den europäischen Juden erforscht, andererseits wurde der Holocaust zu einer Erinnerungsikone, zum Symbol für das Böse schlechthin, auf den sich verschiedenste Opfergruppen bezogen – entweder vereinnahmend, etwa im Sinne von “Black Holocaust”, oder relativierend oder gar leugnend, um das Monopol der Juden auf die Opferrolle im “größten Menschheitsverbrechen aller Zeiten” zu brechen.
Immer spielte der Genozidbegriff dabei eine Rolle. In jedem Fall wurde er aus seinem Kontext – Zweiter Weltkrieg, deutsche Besatzungspolitik und “völkische Flurbereinigung” in Osteuropa – herausgelöst und damit enthistorisiert. Zugleich wurde er entweder verallgemeinert und vermenschlicht oder aber, als Gegenbewegung, mystisch überhöht und mit den Geboten versehen: “Remember!” und “Du sollst nicht vergleichen!” So oder so ist die Beschäftigung mit dem Mord an Jüdinnen und Juden zu einer rein moralischen und politischen Angelegenheit geworden. Jedes große Massaker, jede “ethnische Säuberung”, jeder staatliche Massenmord wird zwangsläufig mit dem Holocaust in Relation gesetzt.
Die Globalisierung von Erinnerungskultur und der Aufstieg von Menschenrechtspolitik trugen das Übrige dazu bei, dass monetäre Opferkonkurrenz und makabre Opferranglisten, Identitätspolitik und Anerkennungspolitik die vergangenheitspolitischen Debatten bestimmen. Wahrscheinlich geht das kaum anders, vor allem wenn es um historische Schuld, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung geht. Nur kennen sollte man den doppelten Boden solcher scheinbar rein wissenschaftlichen Debatten. Die große Debatte um Kontinuitäten zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus ist wohl eher politisch motiviert und wird in dem Moment auf ein unaufgeregtes Normalmaß gestutzt werden, wenn der in Deutsch-Südwestafrika geschehene “erste deutsche Genozid” endlich politisch anerkannt worden ist.
Anmerkungen:
1 Siehe dazu Diners gleichlautenden Essay (Göttingen 2007), dem der Grundgedanke der folgenden Ausführungen entnommen ist.
Jörg Später ist Historiker, freier Autor und ehemaliger Mitarbeiter des iz3w.
Jürgen Zimmerer: Der erste deutsche Genozid.
Zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust (Vortragsmanuskript)
Die Deutschen tun sich schwer mit dem Kolonialismus. Lange Zeit an Universitäten wie im öffentlichen Bewusstsein allgemein ignoriert und vergessen, wird er seit einigen Jahren zwar erinnert, jedoch meist exotisiert und banalisiert. Hegels bekanntes Diktum, dass Afrika keine Geschichte hätte, wird immer noch von vielen geglaubt, zumindest in der Form, dass, wenn es eine Geschichte hat, diese zumindest keinerlei Bedeutung für unsere eigene besitzt – sei es die europäische, sei es die deutsche. Zwar wurden hie und da Professuren und Lehrstühle für Afrikanische, Asiatische, Lateinamerikanische oder allgemein Außereuropäische Geschichte eingerichtet. Aber nur umso leichter ließ sich an den eigentlichen Lehrstühlen, den nationalgeschichtlich definierten, der Fokus auf die deutsche Geschichte beibehalten.
Dabei gehört der Kolonialismus, das heißt die europäische Ausbreitung über den Globus, zu den weltgeschichtlich entscheidenden Entwicklungen der letzten Jahrtausendhälfte, vergleichbar wohl nur mit der Ausbreitung des Islam. Trotzdem behandeln ihn viele nach wie vor wie ein Randereignis der Geschichte, das man getrost einigen institutionellen Exoten überlassen kann. Die Geschichte des europäischen Kolonialismus – über andere Kolonialismen kann ich heute hier nicht sprechen – ist aber Globalgeschichte und Globalisierungsgeschichte in einem. Globalgeschichte spart keinen Kontinent aus und gesteht keinem a priori eine auserwählte Sonderposition zu. Die Überwindung der wissenschaftlich unfruchtbaren und eurozentrischen Annahme eines Sonderstatus Europas, wie er in der Unterscheidung europäisch-außereuropäisch zum Tragen kommt, ist eines der Ziele meines Ansatzes.
Der europäische Kolonialismus zeigte in seiner über fünfhundertjährigen Geschichte viele Gesichter: Europäer gingen in fremde Gegenden und Erdteile, um zu erobern und zu plündern, um zu missionieren und zu zivilisieren, um zu verwalten und zu entwickeln, um auszubeuten und zu siedeln. Sie kamen als Abenteurer und Glücksritter, als Konquistadoren und Beamte, als Farmer und Handwerker. Sie trafen auf Hochkulturen und in kleinen Familienverbänden lebenden Sammler und Jäger, auf Menschen, die wissensdurstig und neugierig den Kontakt mit ihnen suchten, und solche, die die fremden Eindringlinge von Anfang an ablehnten. Sie lebten, liebten, handelten und verhandelten in Plantagen-, Handels und Siedlungskolonien. Der europäische Kolonialismus zerstörte und baute auf, er brachte Tod mit sich und medizinischen Fortschritt, er versklavte und bildete.
Weder kann der Kolonialismus durch die Aneinanderreihung bestimmter Gräueltaten und Verbrechergestalten vom Range eines Pizarro oder eines Lothar von Trotha zur schwarz-weißen Horrorgeschichte gemacht werden, noch läßt sich der Kolonialismus durch Hinweis auf einige Lichtgestalten oder segensreiche Entwicklungen in eine Heilsgeschichte verwandeln. Und schon gar nicht sollte man den Kolonialismus nur von seinem Ende her bewerten: von den verzweifelten Bemühungen der ehemaligen Kolonialmächte, das Versprechen der zivilisatorischen Mission, mit dem sie ihre außereuropäischen Reichsbildungen gerechtfertigt hatten, kurz vor Toresschluss doch noch einzulösen.
Es stellt sich nun die Frage, was Kolonialismus eigentlich ist. Wolfgang Reinhard hat eine zutreffende Definition gegeben, als er Kolonialismus als “Herrschaftsverhältnis unter Ausnutzung einer Entwicklungsdifferenz” bezeichnete. Zwar würde ich selbst den Begriff der Entwicklung nicht unproblematisiert verwenden wollen, jedoch verliert er keineswegs an Plausibilität, wenn man ihn zum einen technokratisch als administrative und waffentechnologische Überlegenheit betrachtet, und wenn man die Entwicklungsdifferenz als “angenommene” versteht, d.h. der Kolonisator fühlt sich überlegen, und sei es kulturell . Eine weitere, postkolonial geprägte Definition versteht darunter jegliches Herrschaftsverhältnis auf binärer Grundlage. Ganz gleich, welcher man zuneigt, es ist in der modernen Forschung unumstritten, dass Kolonialismus sich nicht auf formale Kolonialherrschaft beschränken läßt.
Globalgeschichte wird seit einigen Jahren unter vielerlei Gesichtspunkten geschrieben. Seltsam vernachlässigt scheint mir dabei die Geschichte der Massengewalt zu sein, insbesondere ‚ethnische Säuberungen’ und Genozid. Auf theoretisch anspruchsvollem Niveau wird sie vor allem in und über Australien und Nordamerika geführt. Es ist dieser Kontext, indem auch die Debatte über den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts steht. Betrachtet man jedoch genozidale Ereignisse in Australien, Nordamerika und Südwestafrika, fallen dabei Parallelen und strukturelle Ähnlichkeiten auf, über die nachzudenken es sich lohnt. Der Siedlerkolonialismus, und damit haben wir es in den drei genannten Fällen zu tun, war der Versuch der Kontrolle und bevölkerungspolitischen Neuordnung größerer Territorien nach den Vorgaben einer von außen in die Region gekommenen Bevölkerung. Er basierte zwingend auf einer ethnisch verstandenen Hierarchisierung der Bevölkerung. Motiviert und auch gerechtfertigt wurden sowohl die Invasion als auch die Besetzung fremder Kontinente durch die Einteilung der Menschen in höhere, zum Herrschen bestimmte, und niedere, ihnen unterworfene Rassen. Ob unverhohlener Raub, oder Rechtfertigung als Zivilisationsmission, kaum irgendwo findet sich eine Akzeptanz des indigenen Gegenübers als Gleichem, fast überall findet sich dagegen eine Zurücksetzung. Anders als mit essentieller Ungleichheit ließen sich der gigantische Landraub und die Ausbeutung, die mit dem Kolonialismus verbunden waren, auch gar nicht rechtfertigen. Am untersten Ende der Rangstufe imaginierte man nur allzu oft Gruppen, die angeblich dem Untergang geweiht waren. Hier nachzuhelfen erschien eher als weltgeschichtlicher Auftrag, denn als der brutale Massenraubmord, der es eigentlich war.
Im Siedlerkolonialismus kommt es deshalb besonders häufig zu genozidaler Gewalt: “Genocide has two phases: one, destruction of the national pattern of the oppressed group: the other, the imposition of the national pattern of the oppressor. This imposition, in turn, may be made upon the oppressed population which is allowed to remain, or upon the territory alone, after removal of the population and the colonization of the area by the oppressor’s own nationals.” Das genau ist Siedlerkolonialismus: das Vorgefundene wird unterdrückt oder sogar beseitigt, und dann durch Neues ersetzt.
Die Frage, ob der Begriff des Genozids überhaupt auf den Kolonialismus anzuwenden sei, scheint sich mir dadurch zu erübrigen. Genozid ist kolonial. Das belegt auch die oben genannte Definition, die von keinem geringeren als Raphael Lemkin stammt, dem polnisch-jüdischen Juristen und Urheber des Völkermordkonzepts. Das Zitat stammt aus seiner grundlegenden Analyse der NS-Besatzungspolitik in Osteuropa, “Axis Rule in Occupied Europe”. Damit dürfte sich auch die Frage, ob man das Konzept Genozid zugleich auf den Kolonialismus und die nationalsozialistischen Verbrechen anwenden könne, erledigt haben: Das Konzept war von Lemkin ausdrücklich mit Blick auf beide Phänomene entwickelt worden. Er selbst schrieb in seiner Geschichte des Völkermords auch über die Herero.
Welche Rolle spielt nun aber der deutsche Kolonialkrieg in Namibia in dieser Globalgeschichte des Völkermordes? Es ist banal, festzustellen, dass koloniale Völkermorde nicht gleichgesetzt werden könnten mit den nationalsozialistischen. Dazu sind sie in der Form ihrer Ausführung und in der Auswahl ihrer Opfer wahrlich zu unterschiedlich. Überhaupt lassen sich keine zwei historischen Ereignisse gleichsetzen. Vergleichen muß man historische Ereignisse jedoch, da man ohne die logische Operation des Vergleichs auch das jeweils Spezifische nicht feststellen kann. Die Vergleichende Genozidforschung macht genau dies. Kritik über die angeblich damit verbundene Gleichsetzung ist deshalb polemisch und ideologisch, weder wissenschaftlich noch intellektuell redlich. Wir brauchen nicht weiter darauf eingehen.
Wenn man nun das nationalsozialistische Eroberungs- und Vernichtungsprogramm als zutiefst kolonial begreift, basierend auf ähnlichen Konzepten von Rasse und Raum, dann stellt sich die Frage, wie man historisch die offensichtlichen Unterschiede bewältigen kann, ohne die Verbindungslinien zu verwischen. Ich habe an anderer Stelle (Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51:12 (2003), S. 1098-1119) von einer Genealogie des genozidalen Gedankens gesprochen, die man über den Siedlerkolonialismus bis zum Nationalsozialismus verfolgen könne. Die Suche nach Siedlungsland in Amerika, Australien und Afrika ist dabei funktionsäquivalent zum Lebensraum im Osten Europas während des Dritten Reiches. Hinsichtlich der Formen und Praktiken der Gewalt lässt sich eine immer großflächigere und bürokratisiertere Anwendung von Gewalt beobachten, abhängig vom historischen Entwicklungsstand des (europäischen) Staates.
Dies ist eine historische Entwicklung, ein Verweis auf Ursprünge und Vorläufer, eine Genealogie eben, nicht aber die Begründung einer Kausalität oder einer monolinearen Kontinuität mit dem Charakter der historischen Unvermeidlichkeit. Innerhalb dieser Genealogie kommt dem Krieg gegen die Herero und Nama eine herausgehobene Bedeutung zu, da wir es mit einem kolonialen Pazifizierungskrieg zu tun haben, einer vierjährigen koordinierten Aktion, einem veritablen Krieg. Zudem kombinierte dieser Krieg das genozidale Massaker, die ‚ethnische Säuberung’ und die Vernichtung durch Vernachlässigung in Lagern – ebenfalls Phänomene, auf die wir während des Zweiten Weltkriegs wieder treffen. Im ersten deutschen Genozid tritt das historische Phänomen des Völkermords erstmals in die deutsche Geschichte ein. Und dieser Völkermord wird nicht vertuscht, er ist extrem populär. Gustav Frenssens Abenteuerbuch “Peter Moors Fahrt nach Südwest” ist das erfolgreichste Jugendbuch bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Darin wird der Völkermord offen mit der fehlenden “Kulturleistung” der Herero begründet. Keine Brunnen gebohrt und keine Häuser gebaut hätten sie und deshalb den Untergang verdient.
Exterminatorische Rhetorik hat es schon immer gegeben, im Falle der Herero und Nama wurde sie jedoch auch in die Praxis umgesetzt. Wenn man davon ausgeht, dass der Tabubruch darin besteht, nicht nur von Vernichtung zu reden, sondern sie in Lagern und Massakern auch umzusetzen, dann wurde er in den Kolonien begangen. Deutsch-Südwestafrika scheint mir das Verbindungsglied zu sein zwischen der kolonialen Gewalt- und Vernichtungsgeschichte und der deutschen Geschichte und letztendlich dem Nationalsozialismus. Es ist aber über die Mordpolitik hinaus auch bedeutsam als Schauplatz des ersten deutschen Experiments mit dem Rassenstaat. Beides ist Ausdruck eines radikalen Kolonialismus und Beleg dafür, dass Deutschland in dieser Hinsicht den Anschluss an den europäischen Kolonialismus geschafft hatte. Die Radikalität begründet sich zum nicht geringen Teil gerade aus dem Versuch, aufzuholen, es ‚besser’ zu machen als die anderen. In diesem Sinne war die nationalsozialistische Besatzungs- und Ausbeutungsplanung ein zweiter Versuch.
Diese These wird immer wieder mit dem Hinweis diffamiert, dass andere europäische Staaten noch drastischere Erfahrungen mit dem Kolonialismus gemacht hätten, es dort aber keine vergleichbaren Verbrechen wie die des Dritten Reiches gegeben habe. Dies verwechselt zum einen Kontinuität mit Kausalität. Zum anderen übersieht es die wichtige Unterscheidung, die zu machen ist zwischen der Frage, warum und wie es in Deutschland zur Machtübernahme der Nationalsozialisten kommen konnte, und der Frage, wie die Verbrechen umgesetzt wurden und wieso sie auf so weitgehende Zustimmung trafen. Der postkoloniale Ansatz erklärt nicht – und will es auch gar nicht -, warum die Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht kamen, sondern fragt nach den Vorbildern und Anregungen, auf die sie zurückgreifen konnten, nachdem die Entscheidung für einen neuen Versuch mit Kolonialismus gefallen war.
Vor allem aber bettet der postkoloniale Ansatz die nationalsozialistischen Verbrechen ein in die Geschichte des Kolonialismus und des Genozids. Er versteht sie als – sicherlich extrem radikalisierte Ausprägung – eines weltgeschichtlichen Phänomens, nämlich des Siedlungskolonialismus und des ihm inhärenten Gewaltpotentials. Letzteres ist globalgeschichtlich nicht zu verstehen, wenn man seine radikalste Ausprägung aus der Untersuchung ausklammert. Gleichermaßen läßt sich eine Globalgeschichte des Genozids nicht schreiben ohne Rekurs sowohl auf die traditionell als kolonial betrachteten Völkermorde als auch auf die nationalsozialistischen. Ruanda hat gezeigt, dass sich auch nach dem Holocaust Völkermorde ereignen können, die Elemente von beiden enthalten.
Jürgen Zimmerer ist Direktor des Centre for the Study of Genocide and Mass Violence, University of Sheffield.
Birthe Kundrus: Entscheidende Unterschiede.
Für die Frage nach den Verbindungen zwischen Kolonialismus und NS ist der Genozid-Begriff wenig hilfreich (Vortragsmanuskript)
Es ist zweifellos sinnvoll, Kolonialismus und Nationalsozialismus als Herrschaftsformen in ihren Gewaltdimensionen zu vergleichen. Ebenfalls lohnt es sich, darüber nachzudenken, welche neuen Erkenntnisse eine derartige Übertragung von Analysekategorien zum Kolonialismus in die Zeit des “Dritten Reiches” bringen kann. Jürgen Zimmerer gebührt das Verdienst, diese wichtigen Debatten angestoßen zu haben. Allerdings greift die Diskussion konzeptionell, methodisch und argumentativ an manchen Stellen zu kurz. Das Konzept “Genozid” führt uns in die Irre. Methodisch würde ich beim Thema “Verbindungslinien” zwischen Kontinuitäten, Parallelen und Transfers unterscheiden wollen – eine Unterscheidung, auf die auch meine Antwort gründet, dass es zwar einige Analogien zwischen dem exzessiven Gewalteinsatz in Namibia und beim deutschen Ostfeldzug gibt, beide Ereignisse aber jeweils anderen Logiken folgten und anderen Dynamiken entsprangen. Nicht zuletzt halte ich eine betont nationalgeschichtliche Perspektive für eine Verengung.
Zwei Fragen versuche ich im Folgenden zu beantworten: 1. Warum soll der Mord an den Herero und Nama als erster deutscher Genozid gelten? 2. Warum hat der Kolonialkrieg eine große Bedeutung für den NS-Vernichtungskrieg?
1. Erster deutscher Genozid?
Nach Jürgen Zimmerer sind es zwei Faktoren, die die Gewaltereignisse von 1904-1908 in Deutsch-Südwestafrika aus der Reihe der zeitgenössischen Kriege herausheben und in eine Verbindungslinie mit der deutschen Kriegführung im Osten 1939-1945 bringen sollen: die Systematik, mit der in “Südwest” gebrandschatzt und gemordet wurde, und das aus dieser Systematik und der Intentionalität dieser Tat resultierende Gesamtbild, das sich als Genozid klassifizieren lasse, analog zur UN-Genoziddefinition. Aber stimmt das? Lässt sich die massenhafte entgrenzte Gewalt, die Brutalität in Namibia als überwiegend systematisch und intentional kennzeichnen? Nein. In beiden Fällen haben wir es mit Ereignissen massenhafter exzessiver Gewalt zu tun. In beiden Fällen wurden Gewalttaten erlaubt, die andernorts verboten waren, und Gewaltexzesse diktiert, die normative Grenzen überschritten und deshalb besonderer Legitimation bedurften. Die Dynamiken dieser Entregelung waren aber sehr unterschiedlich, wir haben es hier mit zwei sehr ungleichen Szenarien exzessiver Gewaltentfaltung zu tun. Und weil die Wege zu dieser Brutalität, ihre Dimensionen, Logiken sich unterschieden, erscheint es verfehlt, beide Ereignisse auf denselben Typus festlegen zu wollen: den einer genozidalen Kriegführung. 1
Die Genozid-Definition ist aus vielerlei Gründen wenig hilfreich für eine historische Gewaltforschung. Mein Haupteinwand gegen den Begriff ist, dass er uns ein Bild von exzessiver Gewalt vermittelt, das die Intention der Täter in den Mittelpunkt stellt, andere Faktoren aber, insbesondere den situativen Faktor, das Kontingente, das Unvorhergesehene, das Chaos ausblendet. 2 Der Terminus Genozid suggeriert: Megagewaltereignisse dieser Art, Völkermorde, basierten hauptsächlich auf strategischer Planung, zielgerichteter Intention und abwägendem Kalkül. Das kann so sein, im Fall des Krieges gegen die Herero jedoch sind diese Momente nicht so hoch zu veranschlagen, wie Jürgen Zimmerer annimmt.
Als der Krieg im Januar 1904 ausbrach, war die Erwartungshaltung der militärischen und politischen Führung in Berlin klar: rasche Entwaffnung und Niederschlagung des “Aufstandes”. 3 Die Ereignisse sollten sich aber anders entwickeln. Es lassen sich mehrere Faktoren zur Eskalation nachzeichnen:
- 1. Faktor zur Radikalisierung: das Feindbild. Der Befehlshaber vor Ort, Theodor Leutwein, hielt die Genfer Konvention für nicht anwendbar auf dem afrikanischen Schauplatz, er unterschied nicht zwischen Nichtkombattanten und Kombattanten und ließ in der Regel keine Kriegsgefangenen machen. 4 Diese systematische Brutalisierung seiner Soldaten unterscheidet ihn kaum von seinen europäischen oder amerikanischen Kollegen und ist deshalb noch keineswegs gleichzusetzen mit einer Vernichtungskriegführung, sehr wohl aber mit einer ersten Entgrenzung von Krieg. 5
- 2. Faktor: die Zeit. Die militärische Führung ließ die Macht nicht vor Ort, sondern stellte sie unter den Befehl des Großen Generalstabes (8.2.1904). Denn Leutwein hatte in den Augen Berlins versagt. Er hatte die Herero kriegsmüde machen wollen – was Zeit gebraucht hätte, die ihm der Generalstab aber nicht zugestehen wollte. Eine klassische Situation für asymmetrische Kriege: die knappste Ressource des Starken ist Zeit. Denn er ist zum Sieg verdammt. Hingegen gilt: Solange der Schwache nicht verliert, hat er gewonnen.
- 3. Faktor: persönliche Dispositionen und Interessenlagen. Lothar von Trotha, ein rassistischer Hardliner, wurde zum Kommandeur ernannt und erweiterte die Befehle Leutweins, indem er noch vor seiner Ankunft im Juni 1904 anordnete, alle bewaffneten Rebellen ohne vorgängiges gerichtliches Verfahren erschießen zu lassen. 6 Gleichzeitig ließ er aber auch Kriegsgefangenenlager für 8.000 Herero einrichten. Diese Maßnahme spricht wiederum dafür, dass er Gegner zumindest zunächst am Leben lassen, sie festsetzen wollte – und damit gegen eine umfassende Vernichtungsabsicht zu diesem Zeitpunkt. Vermutlich lautete das strategische Ziel die Vernichtung der feindlichen Streitkräfte, die Gefangennahme möglichst vieler Nichtkombattanten und die dadurch mögliche völlige Unterwerfung der Herero.
- 4. Faktor: die Situation. Die katastrophale Niederlage am Waterberg brachte ganz entgegen Trothas Intention keinen glorreichen Vernichtungssieg, auch wenn er die Herero de facto militärisch zerschlagen hatte. Hier bewies sich nicht deutsche militärische Kompetenz, sondern militärische Inkompetenz. Die Deutschen hatten nicht damit gerechnet, dass die Herero durch das Sandfeld Richtung britische Grenze marschierten. Die faktische Erfolglosigkeit ließ eine besondere Härte als probates Mittel erscheinen, den empfundenen Prestigeverlust vor Ort auszugleichen. 7
- 5. Faktor: das Chaos. Frustrierte Hybris trieb nun von Trotha ebenso an wie die Direktiven der deutschen Militärkultur, nämlich bis zum totalen Sieg weiterzukämpfen. Der Auftrag der folgenden Wochen lautete Verfolgen und Bestrafen der “unbotmäßigen” Herero. Aber die deutschen Truppen waren erschöpft. Wie systematisch und effektiv das Verfolgen, Nachsetzen oder auch Abriegeln der Wasserlöcher in diesem Riesengebiet war, ist äußerst umstritten. 8 Es gab mit einiger Sicherheit keine Kampfverwicklungen mehr, sondern die Deutschen versuchten in der Regel, die fliehenden oder sich ergebenden Herero zu erschießen. 9 In diese Phase fällt der so genannte “Vernichtungsbefehl” vom Oktober 1904, der eigentlich eine Verlautbarung an die Herero war. 10 Hier gestand Trotha indirekt das militärische Scheitern seiner Taktik der Einkesselung ein, indem er nun nämlich auf eine ganz andere räumliche Orientierung setzte – von der Einkesselung der Feinde zu ihrer Vertreibung: “Das Volk der Herero muss jedoch das Land verlassen”. Insofern würde ich Boris Barth zustimmen, dass Trotha nunmehr eine Exterritorialisierung anvisierte. 11 Parallel jedoch versuchte er, noch der meisten Herero habhaft zu werden. Dieses Lavieren zwischen Vertreibung und Mord verstand die Truppe dahingehend, aufgegriffene Herero umzubringen.
- 6. Faktor: Zögerliche Deeskalation. Nach vehementer Kritik aus verschiedenen Teilen der Öffentlichkeit beschloss die Reichsregierung, Trotha nicht mehr gewähren zu lassen. Er musste die Proklamation und seinen Befehl auf telegraphischen Gegenbefehl des Generalstabes aus Berlin zurücknehmen. Zudem wurde er angewiesen, mit Ausnahme der Rädelsführer das Leben der Herero zu schonen, sie zur Zwangsarbeit einzusetzen und hierfür geeignete Sammellager zu errichten. Die Verfolgung der Herero in der Omaheke wurde fortgesetzt.
Aufgrund dieses Gewaltszenarios lässt sich folgendes schlussfolgern:
- 1. Der Krieg 1904 war wie fast alle Kolonialkriege ein asymmetrischer Konflikt, der sich durch strukturelle Ungleichartigkeiten 12 auszeichnet, etwa hinsichtlich Waffen, Mentalitäten oder Vorstellungen von Kriegführung. In ihm wurde die Unterscheidung zwischen Zivilisten und Kombattanten aufgehoben und er wurde von beiden Seiten mit äußerster Brutalität ausgefochten.
- 2. Die meisten Herero fielen nicht in Kampfhandlungen, sondern wurden entweder von den Deutschen niedergeschossen oder starben weit weg von ihnen. Sie verhungerten und verdursteten in der Steppe, oder sie starben an Unterversorgung, Seuchen und Krankheiten in den Lagern. 13
- 3. Der berüchtigte “Vernichtungsbefehl” vom August 1904 ist nicht der Auftakt, sondern eine weitere Stufe der militärischen Aktionen. Er ist kein Befehl zum Völkermord, er intendiert nicht die Entgrenzung von Gewalt, sondern die Begrenzung und Regelung: er erteilt nochmals eine carte blanche zum Töten von Männern, untersagt aber Massaker an Frauen und Kindern, um die Disziplin der Truppe sicherzustellen. Der “Befehl” sanktioniert damit die Praktiken, die schon ausgeübt worden waren. Er bestätigte sie genauso, wie er sie fürderhin erwartete. Das Ziel nach dem Fiasko am Waterberg war das Verschwinden der Herero – so oder so, über die Grenze oder durch Erschießen.
- 4. Historiographisch ist es ein großes Problem, die Kriegführung und die Verhaltensweisen der Herero nachvollziehen zu wollen. Sie standen nach der Einkesselung am Waterberg vor einem unlöslichen Dilemma: entweder sie ergaben sich in die Hand des intransigenten Trotha oder flüchteten ins Sandfeld. Sie wählten das aus ihrer Sicht kleinere, aber risikoreiche Übel, die Flucht. Diese Entscheidung wiederum ließ bei Trotha die Idee Gestalt gewinnen, die Herero zu vertreiben.
- 5. Trotha führte zwar wie alle deutschen Militärs seiner Zeit den Vernichtungsbegriff häufig im Munde. Letztlich aber scheint es, als ob die Bedeutungsoffenheit dieses Begriffes -zwischen Niederringung des Gegners und tatsächlicher physischer Auslöschung einer ganzen Gesellschaft – ihm als Möglichkeitsraum diente, in dem er seine Pläne und Befehle anordnete. 14
- 6. Es gibt offenbar eine signifikant höhere Überlebensquote von weiblichen Herero (6 oder 7 zu 1). Diese Überlebensraten lassen vermuten, dass es eine Tendenz gab, Frauen eher als Männer gefangen zu nehmen. 15 Die Zahlen bestätigen den Eindruck einer Ambiguität der deutschen Kriegführung. Wie mit Frauen und Kindern umgegangen werden sollte, blieb offenbar unklar.
- 7. Das scheint mir das Besondere am “Herero-Genozid” zu sein: Nur auf den ersten Blick bestätigt er die These von intentionalen Genoziden. Schaut man genauer hin, sieht man Lavieren und Unsicherheit und eine je nach Situation wieder neu formulierte Zielvorgabe. Dieselbe Ambiguität lässt sich vermutlich auch im Hinblick auf die Lager festhalten. Auch für diese ist es schwer zu sagen, wie systematisch oder unsystematisch das Sterben von Seiten der Deutschen betrieben oder hingenommen wurde, wie sehr Inkompetenz, Überforderung, Planlosigkeit die Szenerie beherrschten – oder tödliches Kalkül. Gerade wegen diesen Uneindeutigkeiten, wegen diesem Lavieren zwischen Vertreibung und Erschießen, Absicht und Überforderung, Unwillen und Unfähigkeit ist es aus meiner Sicht unabdingbar, sich vom Konzept des Genozids zu lösen und nicht weiter auf einem Modell zu beharren, in dem es einen Lenker gibt, der alle von vornherein umbringen wollte – und so geschah es. In der Regel geschieht es so eben nicht, sondern es gibt Eskalationen, Zusammenläufe, Kontingenzen, persönliche Dispositionen, die ganz wesentlich für Entgrenzungen oder Einhegungen sind. Für diese Dynamik sind die Geschehnisse in Afrika ein anschauliches Beispiel. Ausschlaggebend war nicht eine Vernichtungsabsicht von Trothas. Vielmehr zeigt der Herero-Krieg unterschiedliche Grade und Motive strategischer Kalkuliertheit, systematischen Mordens und unsystematischem Sterbenlassens.
Wie lässt sich nun der Hererokrieg in einer Gewaltgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts verorten? Darüber kann man im Augenblick nur spekulieren, es mangelt an systematischen Vergleichsanalysen. Einerseits ließe sich angesichts der Eskalation anführen, dass dieser Fall den “üblichen” kolonialen Gewaltrahmen sprengte und aus der imperialen Pazifizierungs- und Annexionsgewalt “herausragt” 16 . Aber worin läge dann dieser deutsche Sonderweg? Gemessen an der Zahl der Toten und an gegen die Zivilbevölkerung gerichteten Radikalisierungen wurde hier jedenfalls keine neue Stufe erreicht, blickt man auf andere koloniale Schauplätze, die Philippinen, Kuba oder auch Algerien. Immer wieder kam es zu Vertreibungen und Vernichtungszügen. Insofern könnte man andererseits zu der Überzeugung gelangen, dass die Ähnlichkeiten mit anderen Kolonialkriegen überwiegen. Es gab eine übereinstimmende Ausgangskonstellation der Pazifizierung, der Asymmetrie und damit auch der entgrenzten Gewalt, aber im einzelnen Fall auch unterschiedlich wirksame situative Faktoren. 17
Damit ließe sich formulieren: die exzessive Gewalt in Namibia war kein Anfang, sondern ein Endpunkt von grausamen savage little wars des 19. Jahrhunderts – mit den Deutschen auch auf diesem Gebiet als imperial late comer. 18 Sowieso sollte man, bevor man den zweiten Schritt unternimmt, den ersten wagen, nämlich den Krieg in Deutsch-Südwestafrika in seiner Epoche zu kontextualisieren. Das hieße nach Verbindungslinien mit anderen deutschen 19 wie nichtdeutschen kolonialen counter insurgencies zu fahnden und dabei auch zu berücksichtigen, wie sehr das Militär in einem transnationalen Zusammenhang agierte, indem nicht nur auf eigene Erfahrungen zurückgriffen wurde, sondern auch auf die anderer Staaten. 20 Die Deutschen werteten offenbar intensiv den südafrikanischen Burenkrieg 21 aus, bei der Intervention im chinesischen Boxerkrieg 22 agierte man gleich als alliierte Streitkraft. Im Anschluss an diese intra- und international vergleichenden Ergebnisse ließe sich dann fragen, welche Spuren Kolonialkriege generell, und nicht nur die deutschen, bei den jeweils kriegführenden Nationen in nichtkolonialen Kriegen hinterlassen haben. Welche Wege führten von den Kolonialkriegen westlicher oder östlicher Mächte zum Ersten Weltkrieg, zu den Kriegen der Zwischenkriegszeit oder zum Zweiten Weltkrieg? 23 Diese Erweiterung einer rein nationalen Perspektive erscheint mir ebenso unumgänglich wie das Aufbrechen linearer Konstruktionen von Geschichtsverläufen.
Gehen wir aber für den Moment noch einen Schritt zurück und bleiben im nationalen Rahmen. Wie ist es dann um die “afrikanischen Wurzeln” des Holocaust und des Vernichtungskrieges bestellt? Lassen sich die deutschen Massenverbrechen auch aus der deutschen Kolonialgeschichte erklären?
2. Der Kolonialkrieg – bedeutsam für den NS-Vernichtungskrieg?
Die These vom kolonialen Ideengeber und Bindeglied behauptet, es gebe eine Kontinuität der Gewalt. Die Stetigkeit bestünde in einer Brutalisierung, im Sinne eines den Krieg gegen die Herero überdauernden Abbaus von Hemmungen gegenüber gewaltsamen Verhalten nicht allein gegen Afrikaner, sondern auch gegen andere “Rassen”, insbesondere Juden und “Slawen”. Mit anderen Worten: es habe eine spezifisch deutsche genozidale Disposition der Kriegführung gegeben, die ihren Anfang im Völkermord an den Herero nahm und ihr Ende im Zweiten Weltkrieg fand. Aber es ist schwer, valide einzuschätzen, ob die Deutschen etwas lernten aus den Geschehnissen im südlichen Afrika und ob es dann die Einsicht war, dass man ganze Völker umbringen kann. 24 Diese Erkenntnis hat die Menschheit wohl seit der Antike verinnerlicht. Außerdem: Warum hat der vorgebliche “Tabubruch” nicht bei den Ländern mit der längsten und langfristig gewaltreichsten Kolonialtradition verfangen? 25
Umgekehrt gilt: Wenn man feststellt, dass alle europäischen Staaten ein exzessives koloniales Gewalterbe aufweisen, allein aber die Deutschen mit dem Zweiten Weltkrieg das größte Maß an Zerstörung innerhalb Europas entfesselten, dann rückt das koloniale Erbe als Beschleunigungsmoment in den Hintergrund und offenbar andere Faktoren für das Ausscheren Deutschlands in den Vordergrund. Angemessen wären auch für diesen Gegenstand eine Kontextualisierung und ein Abwägen kolonialer und nichtkolonialer Elemente.
Es ist ein ungemein schwieriges Unterfangen, Traditionen von Gewalt – Haltungen wie Praxen -, bestimmen zu wollen. Es stellt sich die Frage, ob und wie denn die kolonialen Gewaltpraxen und -einstellungen in das Gedächtnis des Militärs, in Ausbildung und Weltbild dieser Institution eingeflossen sind. Sind koloniale Dispositionen im Ersten Weltkrieg ausgeübt worden, haben sie sich in den Kämpfen der Freikorpsverbände Bahn gebrochen, haben sie im Mantel der Zivilität bis 1935 fortexistiert und dann positiv konnotiert und sanktioniert 1939/1941 eine Wiederbelebung erfahren? Und wie ließe sich ein derartiger Verlauf belegen? Kurz: Was sind die Mechanismen der Weitergabe von Gewalterfahrungen? Hierin liegt die theoretische und methodische Herausforderung dieser Kontinuitätsthese, der eine zweite Herausforderung auf dem Fuße folgt: nämlich wie sich dieser Kern, diese genozidale Disposition unter den Bedingungen eines Wechsels der Schauplätze, von Übersee nach Europa, erhielt, kurz: wie es also nicht nur um das Fortbestehen in der Zeit, sondern auch im Raum bestellt war.
Zweitens würde ich Kontinuitäten von Transfers unterscheiden. Bei Transfers stehen weniger die Beharrungskräfte der Vergangenheit, als deren Rezeption durch die Nachkommen im Mittelpunkt. Also nicht, ob die Deutschen in ihrem Gewaltauftreten Großbritannien, das Spätosmanische Reich oder Stalin imitierten, nicht, wie die Briten tatsächlich Indien verwalteten, nicht, wie die Türken tatsächlich die Armenier umbrachten oder wie die Sowjetunion tatsächlich Vertreibungen auf ihrem Gebiet realisierte, wäre hier von Interesse, sondern wie im Prozess der Auseinandersetzung mit diesen Ideen, Einrichtungen und Taten der Nationalsozialismus seine eigene Gewaltförmigkeit mitproduzierte und dynamisierte.
Um eine dritte systematische Ebene geht es, wenn wir von Parallelen, von strukturellen Analogien sprechen. Dann würde die Frage lauten, ob sich in der NS-Kriegführung Muster der deutschen bzw. europäischen Kolonialkriegführung wieder finden. Auf dieser Ebene lassen sich durchaus Parallelen zwischen der Kriegführung gegen die Herero und gegen die Sowjetunion finden: Etwa die Grundstruktur von Eskalationsstufen, ähnliche Erwartungshaltungen hinsichtlich eines schnellen und raschen Sieges, ein möglichst rücksichtsloses Vorgehen, gespeist auch aus Rassismus und Überlegenheitsgefühlen, eine überwiegend fehlende Empathie mit dem Gegner, die Zerstörung von Lebensgrundlagen, die Hereinnahme von nichtdeutschen Hilfstruppen oder die berühmte deutsche Auftragstaktik, die den Soldaten vor Ort viel Spielraum für eigene Initiativen ließ.
Aber die ausschlaggebenden Konstellationen und Logiken der beiden Kriege unterschieden sich, weshalb die deutsche Kriegführung im Osten ein ungleich größeres Destruktionsvermögen entwickelte:
- 1. Auch wenn es um Eroberung und Unterwerfung ging, der Krieg gegen die UdSSR war kein asymmetrischer Konflikt. Gewiss mögen sich asymmetrische Strukturen, etwa der Partisanenkrieg, finden, die Grundstruktur war indes symmetrisch. Es handelte sich um einen staatlich getragenen Konflikt, ja mehr noch: Hier standen sich zwei Imperialmächte auf gleicher Augenhöhe gegenüber, die beide eine vielleicht nicht totale, aber doch erschöpfende Ressourcenmobilisierung und den Einsatz umfassend technisierter Massenheere veranlassten.
- 2. Der Krieg gegen die Sowjetunion war als Vernichtungskrieg von Anfang an politisch gewollt. In einem politisch-militärischen Geflecht von Weisungen, Anordnungen, Belehrungen und Befehlen – z.B. Aufgabenabgrenzung zwischen Heer und Einsatzgruppen der SS, “Kommissarbefehl”, Aussetzung der kriegsgerichtlichen Ahndung von Verbrechen der deutschen Soldaten an der Bevölkerung, “Richtlinien für das Verhalten der Truppe in Rußland” 26 – setzten Wehrmacht und Heeresführung die Forderungen Hitlers und der NS-Spitze um: “rücksichtsloses und energisches Durchgreifen gegen bolschewistische Hetzer, Freischärler, Saboteure, Juden und restlose Beseitigung jedes aktiven und passiven Widerstandes” 27 . Auch wenn es situative Eskalationen oder Neuorientierungen gab, diese Zielvorgabe der ungehemmten und radikal ergebnisorientierten Gewaltanwendung blieb bestimmend. Es gab in Berlin nie die Überlegung auszusteigen, keine Intervention aufzuhören, kein kontrollierendes Domestizieren. Personelle Ablösungen mochten graduell etwas ändern, bewirkten aber keinen Richtungswechsel. Zugespitzt formuliert: Hier ging es nicht um das Versagen ziviler Einhegung, hier existierte überhaupt keine zivile Einhegung mehr. Und das ist ein zweiter entscheidender Unterschied. Weniger eskalierende Kriegserfahrungen, nicht die Frustration eines einzelnen Oberbefehlshabers, nicht die Fixierung, den Gegner bestrafen und sich rächen zu wollen, sondern die Kollektivvision eines immerwährenden deutschen Kampfes hielt das Rad der Gewalt am Laufen. 28 Im Osten wurde der Krieg politisch gewollt zum endgültigen Weltanschauungskampf, der Ausnahmezustand zum Normalzustand. Die politische Funktionalität entgrenzter Gewalt stand nicht mehr zur Debatte. 29 Das zur Norm erhobene Übermaß ist, so Michael Geyer, der Schlüssel zur deutschen Kriegführung. 30
- 3. Auch mit Blick auf den Holocaust lassen sich zunächst strukturelle Parallelen konstatieren: der Krieg öffnete einen Möglichkeitsraum, hier wie dort waren die Herero bzw. die Juden ein Problem. Beide sollten verschwinden, eine Lösung dazu wurde in Exterritorialisierungen gesucht.
Aber es bedurfte für das Destruktionsvermögen der Shoah einer spezifischen Konstellation. Wie diese genau zu konturieren wäre, darüber bestanden in der Holocaustforschung lange Zeit Kontroversen; inzwischen gilt ein enger Zusammenhang von Antisemitismus – genauer eines sich aus eigenen Traditionsbeständen speisenden Erlösungsantisemitismus -, Kriegsführung, Besatzungspolitik, “Umvolkungsplänen” (“Generalplan Ost”) und Ernährungspolitik als wahrscheinlich. 31 Alle diesen Faktoren mündeten letztlich in ein hochverdichtetes und hochsystematisches Töten – unterschiedslos und geschlechtsübergreifend. 32 Weder führte also die Angst um einen eventuellen Prestige- oder Herrschaftsverlust wie in den Kolonien zu den Massentötungen in Osteuropa, noch ergaben sie sich aus Kampfhandlungen. Der reale jüdische Widerstand spielte für die Vernichtungspraxis keine Rolle.
Zusammengefasst war und ist kriegerische exzessive Gewalt ein höchst variables Ereignis, auch wenn das Ergebnis immer gleich entsetzlich erscheint. Mag das deutsche Morden in Afrika nicht auf systematische Ausrottung angelegt gewesen sein, so bleibt es eine verbrecherische Kriegführung. Theoretische Vorannahmen über das Wesen entgrenzter Gewalt helfen nur dann weiter, wenn sie sich empirisch bewähren und vor allem die Prozesshaftigkeit dieser Gewalt zu erfassen vermögen. Deshalb ist auch die Rekonstruktion der Geschehnisse so dringend.
Die Bedeutung der deutschen Kolonialgeschichte für die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert wird nicht geschmälert, wenn sich die Verbindungslinien zwischen ihrer Gewaltförmigkeit und dem eliminatorischen Ostkrieg der Nationalsozialisten als eher dünn erweisen. Vielleicht sollten wir schlicht zeitnäher suchen. Dann wäre zu klären, inwiefern die deutschen Aktionen in eine Art europäisches oder west-östliches colonial archive eingegangen sind. Und zweitens wäre der Blick stärker auf den Ersten Weltkrieg zu richten.
Anmerkungen:
1 Der Begriff des Vernichtungskrieges meint hier die totale Vernichtung der Streitkräfte und der Zivilbevölkerung eines Gegners. Zum Konzept des Vernichtungskrieges vgl. Jan Philipp Reemtsma, Die Idee des Vernichtungskrieges. Clausewitz – Ludendorff – Hitler, in: Hannes Heer/Klaus Naumann (Hrsg.), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944, Hamburg 1995, S. 377-401; Robert T. Foley, From Volkskrieg to Vernichtungskrieg. German concepts of warfare 1871-1935, in: Anja V. Hartmann/Beatrice Heuser (Hrsg.), War, Peace and World Orders in European History, London/New York 2001, S. 214-225.
2 Diese Zentrierung auf eine individuell rückführbare Absicht ist aus der juristischen Genese und Perspektive der Genozid-Konvention verständlich. Die wissenschaftliche Analyse genozidaler Ereignisse zeigt aber, dass die Interessenslagen von Tätern viel weniger rekonstruierbar sind als deren Taten oder Legitimationen.
3 Beste Darstellung der Abläufe bei Isabel V. Hull, Absolute Destruction. Military Culture and the Practices of War in Imperial Germany, Ithaca and London 2004; einschlägig Horst Drechsler, Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft. Der Kampf der Herero und Nama gegen den deutschen Imperialismus (1884-1915), Berlin 1984².
4 Im Gegensatz zu Trotha aber strebte er Verhandlungen mit den Gegnern an, wollte das Überlaufen begünstigen, anerkannte als militärischer Führer den Status der Kriegsgefangenschaft, auch wenn er Rücksichtnahmen für Duselei und realitätsfern hielt. Rassengegensätze waren für ihn keine erbbiologischen Unterschiede, sondern Interessengegensätze. Robert von Friedeburg, Konservatismus und Reichskolonialrecht,. Konservatives Weltbild und kolonialer Gedanke in England und Deutschland vom späten 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, in: Historische Zeitschrift 263 (1996), S. 345-393, hier S. 369.
5 Um nur ein Beispiel zu zitieren: Brigadegeneral Jacob Smith hatte im Jahr 1899 amerikanische Truppen gegen widerständige Filipinos mit der Weisung auf den Weg geschickt: “Ich will keine Gefangenen. Je mehr Ihr tötet und niederbrennt, desto mehr macht Ihr mir eine Freude. Macht das Hinterland von Samar zu einer heulenden Wildnis.” Zit. nach Bernd Greiner, Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam, Hamburg 2007, S. 29,Vgl. auch Robert Gerwarth/ Stephan Malinowski, Der Holocaust als “kolonialer Genozid”? Europäische Kolonialgewalt und nationalsozialistischer Vernichtungskrieg”, in: Geschichte und Gesellschaft, 33 (2007), 3, S. 439-466. Weitere Beispiele für eine ähnliche Kriegskonstellation und einer hohen Anzahl von zivilen Toten sind der kubanische Unabhängigkeitskrieg und das Regime des spanischen Generals und Gouverneurs Valeriano Weyler y Nicolau oder einzelnen Massaker an Native Americans im Rahmen der kriegerischen Konflikte bei der Landnahme der Weißen in Nordamerika Generell Dierk Walter, Warum Kolonialkrieg?, in: Thoralf Klein/Frank Schumacher (Hg.), Kolonialkriege. Militärische Gewalt im Zeichen des Imperialismus, Hamburg 2006, S. 14-43. Er schlägt als Definition vor: “Kolonialkrieg ist die in den Formen des kleinen oder asymmetrischen Krieges ausgeübte Gewalt an der kolonialen Peripherie”. Das Ausschlaggebende wäre mithin der Kolonialismus als Herrschaftsform, nicht die Art der Kriegführung.
6 Jürgen Zimmerer, Krieg, KZ und Völkermord in Südwestafrika. Der erste deutsche Genozid in: ders., Joachim Zeller (Hg.), Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904-190) in Namibia und seine Folgen, S. 45-63,, hier S. 50; Hull, S. 49.
7 Hull zitiert von Trotha aus dem Jahre 1909, als dieser behauptete, er hätte Verhandlungen zugestimmt, hätten sich die Herero am Waterberg ergeben.
8 Brigitte Lau, Uncertain Certainties, in: Mibagus 1989, Nr. 2, S. 4-8. Hull spricht von lediglich zwei Verfolgungspatrouillen, auch Estorff , der eine der Patrouillen leitete, schilderte, wie sich einzelne Trupps an den Deutschen vorbeischlichen bzw. wie die aufkommende Regenzeit die Chancen der Herero auf das Gelingen ihrer Flucht vergrößerte. Ludwig von Estorff, Wanderungen und Kämpfe in Südwestafrika-Ostafrika und Südafrika 1894-1910, hrsg. von Christoph-Friedrich Kutscher, Wiesbaden o. J. (1968), S. 117.
9 Hull, S. 45.
10 Am 2. Oktober 1904 erließ General von Trotha folgende Proklamation an das Volk der Herero:
“Ich, der große General der Deutschen Soldaten, sende diesen Brief an das Volk der Herero. Die Herero sind nicht mehr deutsche Untertanen. Sie haben gemordet und gestohlen, haben verwundeten Soldaten Ohren und Nasen und andere Körperteile abgeschnitten, und wollen jetzt aus Feigheit nicht mehr kämpfen. Ich sage dem Volk: Jeder, der einen der Kapitäne an eine meiner Stationen als Gefangenen abliefert, erhält tausend Mark, wer Samuel Maharero bringt, erhält fünftausend Mark. Das Volk der Herero muss jedoch das Land verlassen. Wenn das Volk dies nicht tut, so werde ich es mit dem Groot Rohr dazu zwingen. Innerhalb der Deutschen Grenzen wird jeder Herero mit und ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber oder Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück, oder lasse auf sie schießen. Dies sind meine Worte an das Volk der Herero. Der große General des mächtigen Deutschen Kaisers.”
Ergänzt wurde die Proklamation durch den der eigenen Truppe zu verlesenden Zusatz:
“Dieser Erlaß ist bei den Appells den Truppen mitzuteilen mit dem Hinzufügen, daß auch der Truppe, die einen der Kapitäne fängt, die entsprechende Belohnung zu teil wird und daß das Schießen auf Weiber und Kinder so zu verstehen ist, daß über sie hinweggeschossen wird, um sie zum Laufen zu zwingen. Ich nehme mit Bestimmtheit an, daß dieser Erlaß dazu führen wird, keine männlichen Gefangenen mehr zu machen, aber nicht zu Grausamkeiten gegen Weiber und Kinder ausartet. Diese werden schon fortlaufen, wenn zweimal über sie hinweggeschossen wird. Die Truppe wird sich des guten Rufes der deutschen Soldaten bewußt bleiben.” BA Berlin, RKA, R 10.01, 2089, Bl. 23, Handschriftliche Abschrift der Proklamation an das Volk der Herero und des Zusatzbefehls an die Kaiserliche Schutztruppe, 2.10.1904.
.11 Boris Barth, Genozid. Völkermord im 20. Jahrhundert. Geschichte. Theorien. Kontroversen, München 2006, S. 128-136.
12 Vgl. Dierk Walter, Symmetry and Asymmetry in Colonial Warfare ca. 1500-2000. The Uses of a Concept, IFS Info 3, 2005, Oslo 2005.
13 Wir wissen nicht, welchen Umfang die in Namibia verübten Gewaltexzesse hatten, genauere Todeszahlen der Herero sind Spekulation, die Schätzungen reichen von 50% bis 80%. Hull, Destruction, S. 88-90.
14 Die Annahme, mit dem Zurücktreiben der Frauen und Kinder in die Steppe habe von Trotha deren Tod durch verdursten und Entkräftung intendiert, erschließt sich nicht aus der Proklamation. Was mit den Frauen und Kindern geschehen soll, wird in diesem Schreiben ebenso wenig thematisiert wie das Schicksal derjenigen Männer, die das Land nicht “verlassen” wollten. Diese “Leerstellen”, die für viele massenhafte Tötungsprozesse charakteristisch sind, verunmöglichen es, Völkermorde oder ähnliche Fälle entgrenzter Gewalt ausgerechnet über das labile Kriterium “Intentionen” festklopfen zu wollen.
15 Hull, S. 54. In diese Spannungsverhältnis von widerstreitenden Normen, nämlich dem Gebot der Erbarmungslosigkeit (“nehme keine Weiber mehr auf”) und dem Verbot des Mordens an Frauen und Kindern (“keine Grausamkeit an Frauen und Kindern”) steht auch die Trothasche Proklamation.
16 Jürgen Zimmerer, Rassenkrieg und Völkermord. Der Kolonialkrieg in Deutsch-Südwestafrika und die Globalgeschichte des Genozids, in: Henning Melber, (Hg.), Genozid und Gedenken. Namibisch-deutsche Geschichte und Gegenwart, Frankfurt/M. 2005, S. 23-48, hier S. 48.
17 Zudem war die Grundkonstellation der koloniale Kontext. Die Proklamation von Trothas spiegelt diese koloniale Struktur, die Selbst- wie Fremdwahrnehmung als legitime Kolonialherrn und unbotmäßige Kolonisierte wider. Daher spielten auch die für viele Kolonialkriege zu beobachtende Impulse der Rache und des Bestrafens eine große Rolle. Schließlich: als klassischer kolonialer Pazifizierungsfeldzug ging es politisch immer noch um das Wiederherstellen von “Ruhe und Ordnung”.
18 Die weitergehende Frage wäre dann, ob sich eine Korrespondenz zwischen zivil eingehegten metropolitanen Gesellschaften, in denen eine Stigmatisierung der Gewalt vorherrscht bzw. allmählich voranschreitet, und deren enthemmtem Ausleben an den Peripherien auf fremden Boden herstellen lässt. Vgl. Gerwarth/Malinowski, S. 450.
19 Erste Ansätze dazu bei Susanne Kuss, Kriegführung ohne hemmende Kulturschranke: Die deutschen Kolonialkriege in Südwestafrika (1904-1907) und Ostafrika (1905-1908), in: Thoralf Klein/Frank Schumacher (Hg.), Kolonialkriege. Militärische Gewalt im Zeichen des Imperialismus, Hamburg 2006, S. 208-247. Im Krieg gegen die Hehe nahmen die Deutschen Frauen und Kinder gefangen, weil dies, wie sie festgestellt hatten, die Männer zur Aufgabe des Kampfes veranlasste. Gleichzeitig wurden jedoch systematisch Hungersnöte erzeugt, indem alle Nahrungsmittel vernichtet und die Felder verwüstet wurden. Hinter dieser Art einer “punktuellen Vernichtung im Krieg” (Thoralf Klein) stand aber weder die Ausrottung der Hehe – an sie wurde gleich nach Beendigung des Krieges Saatgut verteilt für die Wiederbestellung der Felder – noch hatte sich der Krieg von einem politischen Ziel, nämlich der Befriedung der Kolonie, vollständig abgelöst. Thomas Morlang, “Die Wahehe haben ihre Vernichtung gewollt.” Der Krieg der “Kaiserlichen Schutztruppe” gegen die Hehe in Deutsch-Ostafrika (1890-1898), in: Thoralf Klein/Frank Schumacher (Hg.), Kolonialkriege. Militärische Gewalt im Zeichen des Imperialismus, Hamburg 2006, S. 80-108.
20 Gerwarth/Malinowski, S. 447, verweisen in diesem Zusammenhang auf den Begriff des “colonial archive”.
21 Wenngleich die Übertragungsfähigkeit auf den europäischen Schauplatz als eher begrenzt eingeschätzt wurde, so Cord Eberspächer, “Albion zal hier ditmaal zijn Moskou finden!” Der Burenkrieg (1899-1902), in Thoralf Klein/Frank Schumacher (Hg.), Kolonialkriege. Militärische Gewalt im Zeichen des Imperialismus, Hamburg 2006, S.182-207, hier S. 196-197.
22 Vgl. Thoralf Klein, Straffeldzug im Namen der Zivilisation. Der Boxerkrieg in China (1900-1901), in: Thoralf Klein/Frank Schumacher (Hg.), Kolonialkriege. Militärische Gewalt im Zeichen des Imperialismus, Hamburg 2006, S. 145-181; den diesen Aspekt eher vernachlässigenden Band: Mechthild Leutner/Klaus Mühlhahn (Hg.), Kolonialkrieg in China. Die Niederschlagung der Boxerbewegung 1900-1901, Berlin 2007.
23 “Hinsichtlich der Gewalt, die der Zivilbevölkerung in einem Krieg droht, der die Grenzen zur kämpfenden Truppe auflöst, wurden die Europäer im Ersten Weltkrieg eingeholt von ihrer eigenen Vergangenheit und zugleich von ihrer gegenwärtigen Praxis außerhalb Europas.” Dieter Langewiesche, Eskalierte die Kriegsgewalt im Laufe der Geschichte? In: Jörg Baberowski (Hg.), Modere Zeiten? Krieg, Revolution und Gewalt im 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 12-36, hier S. 29.
Hingegen interpretiert Hew Stachan, A General Typology of Transcultural Wars – The Modern Ages, in: Hans-Henning Kortüm, Transcultural Wars from the Middle Ages to the 21st Century, Berlin 2006, S. 85-1103, hier S. 94-97, die Barbarisierung der intrakulturellen Kriegführung in Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als vor allem hausgemachtes europäisches Phänomen. Er sieht den Kollaps der Trennung in eine europäische und koloniale Kriegführung weniger darin begründet, dass die koloniale entgrenzte Kriegführung nach Europa transportiert worden sei, sondern dass nichteuropäische Truppen auf dem Kontinent verwandt worden seien. Die Kolonien seien zwar in den 20er und 30er Jahren als Laboratorien etwa für die Wirkung von Bombardements benutzt worden, aber die Europäer hätten z.B. 1915 mit dem Einsatz von Gaswaffen ihre Neigung bewiesen, gerade untereinander rücksichtslos zu kämpfen. Auch eher skeptisch: Michael Hochgeschwender, Kolonialkriege als Experimentierstätten des Vernichtungskrieges?, in: Dietrich Beyrau/Michael Hochgeschwender/Dieter Langewiesche (Hg.), Formen des Krieges. Von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn u.a. 2007, S. 269-290. Morlang, Wahehe, S. 93-94, erinnert daran, dass schon die Franzosen während der Napoleonischen Kriege in Spanien bei einem Gegner, der sich nicht zum Kampf stellte, das Niederbrennen von Höfen und Ortschaften, die Verwüstung der Felder, Vernichtung des Viehs praktiziert hatten.
24 Im deutschen Militär scheint die zeitnahe Auswertung des Herero-Krieges begrenzt gewesen zu sein. Anerkannt wurde lediglich die Notwendigkeit, Infanterie und Kavallerie mit Maschinengewehren auszurüsten. Erwogen, aber nicht realisiert wurde die Aufstellung einer ständigen Eingreiftruppe für überseeische Einsätze. Grundkurs deutsche Militärgeschichte, Band 1: Die Zeit bis 1914. Vom Kriegshaufen zum Massenheer, München 2006, S. 476-478. Paul von Lettow-Vorbeck hingegen adaptierte das Modell der Guerilla, das er auf diversen kolonialen Schauplätzen kennen gelernt hatte, und wandte es als Kommandeur der deutschen Truppen in Ostafrika bis zum Waffenstillstand 1918 an – mit desaströsem Ausgang für seine einheimischen Truppen. Vgl. die allerdings unbefriedigende Biographie von Uwe Schulte-Varendorff, Kolonialheld für Kaiser und Führer. General Lettow-Vorbeck – Mythos und Wirklichkeit, Berlin 2006.
25 Gerwarth/Malinowski, S. 450; Pascal Grosse, What does German Colonialism have to do with National Socialism. A Conceptual Framework, in: Eric Ames, Marcia Klotz, Lora Wildenthal (Hg.), Germany’s Colonial Pasts, Lincoln/London 2005, S. 115-134; Hochgeschwender, Kolonialkriege, S. 271.
26 Vgl. Manfred Messerschmidt, Ideologie und Befehlsgehorsam im Vernichtungskrieg, in: ders. Militarismus, Vernichtungskrieg, Geschichtspolitik. Zur deutschen Militär- und Rechtsgeschichte, Paderborn u.a. 2006, S. 221-244, hier S. 230-231.
27 Richtlinien für das Verhalten der Truppe in Rußland, 19.05.1941. Zit. nach ebd., S. 230. Pars pro toto: Befehl des Generalfeldmarschall von Reichenau vom 10.10. 1941:
“Betr.: Verhalten der Truppe im Ostraum
Hinsichtlich des Verhaltens der Truppe gegenüber dem bolschewistischen System bestehen vielfach noch unklare Vorstellungen. Das wesentliche Ziel des Feldzuges gegen das jüdisch-bolschewistische System ist die völlige Zerschlagung der Machtmittel und die Ausrottung des asiatischen Einflusses im europäischen Kulturkreis. Hierdurch entstehen auch für die Truppe Aufgaben, die über das hergebrachte einseitige Soldatentum hinausgehen. Der Soldat ist im Ostraum nicht nur ein Kämpfer nach den Regeln der Kriegskunst, sondern auch Träger einer unerbittlichen völkischen Idee… Deshalb muss der Soldat für die Notwendigkeit der harten, aber gerechten Sühne am jüdischen Untermenschentum volles Verständnis haben. Sie hat den weiteren Zweck, Erhebungen im Rücken der Wehrmacht, die erfahrungsgemäß stets von Juden angezettelt werden, im Keime zu ersticken. Der Kampf gegen den Feind hinter der Front wird noch nicht ernst genug genommen. Immer noch werden heimtückische, grausame Partisanen und entartete Weiber zu Kriegsgefangenen gemacht…
Fern von allen politischen Erwägungen der Zukunft hat der Soldat zweierlei zu erfüllen:
1. die völlige Vernichtung der bolschewistischen Irrlehre, des Sowjetstaates und seiner Wehrmacht,
2. die erbarmungslose Ausrottung artfremder Heimtücke und Grausamkeit und damit die Sicherung des Lebens der deutschen Wehrmacht in Russland.
Nur so werden wir unserer geschichtlichen Aufgabe gerecht, das deutsche Volk von der asiatisch-jüdischen Gefahr ein für allemal zu befreien.” Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion. “Unternehmen Barbarossa” 1941. Hrsg. v. Gerd R. Ueberschär u. Wolfram Wette. Frankfurt a. M. 1991, S.285-286.
28 Vgl. auch Richard Bessel, Nazism and War, London 2004.
29 Vgl. auch Dirk van Laak, Über alles in der Welt. Deutscher Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert, München 2005, S. 153-155.
30 Konrad Jarausch/Michael Geyer, Zerbrochener Spiegel. Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert, München 2005, S. 155.
31 Einen knappen, aber konzisen Überblick über die Forschung gibt Dieter Pohl, Verfolgung und Massenmord in der NS-Zeit 1933-1945, Darmstadt 2003.
32 Mit anderen Worten: Auch für die Frage, wie es zur “Endlösung der Judenfrage” kommen konnte, gilt die Intention Hitlers als mittlerweile nachrangig. Das war nicht immer so, denkt man an den Streit zwischen “Funktionalisten” und “Intentionalisten”. Aber heute scheint die Suche nach einem “Führerbefehl” der Einsicht gewichen zu sein, dass es eine derartig eindeutige und zudem verschriftlichte Willensbekundung nie gegeben und man sich ein falsches Bild vom Ablauf des Holocaust gemacht hat.
Ab Herbst 1941 wurde das direkte Erschießen von Frauen und Kindern nicht nur nicht mehr untersagt wie 1904, sondern zum Gebot für die SS-Einsatzgruppen in der Sowjetunion. Nicht mehr die Vertreibung über die deutsche Grenze mit der möglichen, aber nicht sicheren Konsequenz eines Massensterbens, sondern die Sammlung, Konzentration und Ermordung aller Juden wurde zur Handlungsmaxime. Deshalb starb vermutlich die Mehrzahl der ermordeten Juden in face to face killings.
Birthe Kundrus ist Historikerin am Hamburger Institut für Sozialforschung.
Anschließende Podiumsdiskussion (7.2.2008):Jürgen Zimmerer:
Frau Kundrus’ Argument war, dass der Hererokrieg ein asymmetrischer Krieg gewesen sei, während es sich beim Ostfeldzug der Nationalsozialisten um einen symmetrischen Krieg gehandelt habe. Wenn dies das Hauptkriterium zur Unterscheidung ist, dann müsste aber erklärt werden, wo der Unterschied lag zwischen dem symmetrischen Krieg an der Westfront und dem ebenfalls symmetrischen Krieg an der Ostfront. Denn einen fundamentalen Unterschied gibt es dort ja offensichtlich, obwohl beides symmetrische Kriege waren. Die Unterscheidung sollte daher meiner Meinung nach nicht zwischen asymmetrisch und symmetrisch getroffen werden, sondern zwischen eingehegtem und entgrenztem Krieg. Nicht jeder asymmetrischer Krieg ist auch ein entgrenzter Krieg.
Kolonialkriege waren auf Grund der rassenideologischen Aufladung entgrenzte Kriege, und das ist der Ostfeldzug der Nationalsozialisten ebenfalls gewesen. In dieser Rassenideologie, die dem Anderen das Mensch-Sein abspricht, liegt eine fundamentale Ähnlichkeit zwischen den Kolonialkriegen und dem Krieg im Osten. Aus diesem Grund überzeugt mich das Argument mit dem asymmetrischen Krieg als Unterschied nicht.
Zur Prozesshaftigkeit von Genoziden: Die moderne Genozidforschung ist doch – wie die moderne Holocaustforschung – schon längst weg vom Modell des Führerbefehls, der zentral gesteuerten Anordnung, in dem kein Platz für Prozesshaftigkeit bleibt. Für die Genozide in traditionellen Kolonialkriegen und für den Krieg im Osteuropa geht man von einer ideologischen Aufladung aus, in der der Oberbefehlshaber oder die führende Gruppe ein “Machbarkeitsfenster” öffnet. In dieser Situation kommt dann der situative Kontext zum Tragen. Das ist auch beim Hererokrieg zu sehen. Es ist möglich, die Herero alle zu vernichten, deshalb kann von Trotha das tun, und deshalb wird es auch ausgeführt.
Betrachtet man die Philippinen – dieses Beispiel hat Frau Kundrus ja genannt -, dann lässt sich zeigen, dass die amerikanische Armee dort ähnlich brutal vorging wie die “Schutztruppe” in Deutsch-Südwestafrika. Nur wird diese teilweise von Washington zurückgerufen. Von Trotha jedoch wird von Berlin nicht gemaßregelt. Hier nimmt Frau Kundrus bei dem Versuch, den Genozid an den Herero zu widerlegen, die Propaganda von Trothas allzu wörtlich.
Wenn Frau Kundrus darauf hinweist, dass Frauen und Kinder laut dem so genannten “Vernichtungsbefehl” nicht erschossen werden sollten, so stimmt das schon. Aber der Befehl lautete, über deren Köpfe zu schießen, damit sie wieder in die Wüste flüchten. Und der Subtext dieses Befehls ist: Dort verdursten sie. Daraus zu konstruieren, dass man im Grunde die Frauen und Kinder schonen wollte, erscheint mir schwierig.
Zum Aspekt der nationalgeschichtlichen Verengung: Wer vertritt denn eigentlich die These, dass es sich um einen deutschen Sonderweg zum Genozid handelt? Es handelt sich hier ganz klar um ein europäisches Phänomen, das sich schon im Hererokrieg radikalisiert. Und deshalb ist der Hererokrieg wichtig für das Verständnis des Nationalsozialismus. Er ist auch deshalb wichtig, weil es beide Male die deutsche Armee ist, die diese Verbrechen begeht. Keineswegs handelt es sich jedoch um eine deutsche “genetische Disposition” zum Genozid oder Ähnliches.
Zu Frau Kundrus’ Einwand, der Genozidbegriff ließe Chaos und Kontingenz außer Acht: Die Genozidkonzeption tut dies eben nicht. Es geht lediglich um eine bestimmte Intentionalität der Vernichtung. Diese eröffnet Möglichkeitsräume, in denen sich dann auch der einzelne Täter vor Ort gerechtfertigt sehen kann.
Birthe Kundrus:
Sie sagten, die Intentionalität eröffne einen Möglichkeitsraum. Es ist jedoch nicht die Intentionalität, die einen solchen Raum eröffnet, sondern die Situation. Genauer: die Kriegssituation. Insofern würde ich dafür plädieren, sich vom Genozidbegriff zu lösen, der so stark auf die Intentionalität setzt, anstatt an situative Momente anzuknüpfen. Dann lässt sich sehen: Was ist wirklich passiert, wie lassen sich Eskalationsstufen rekonstruieren? Damit würde man sich auch endlich von der Frage lösen: “Haben wir es mit einem Genozid zu tun oder nicht?”
Zu Fragen wäre stattdessen: Worin bestehen die Ähnlichkeiten in den damaligen Kolonialkriegen? In Deutsch-Südwest bestand ein koloniales Setting, und es handelte sich um einen Pazifizierungskrieg. Die Hereros sollten für ihr unbotmäßiges Verhalten und den Mord an den Siedlern bestraft werden, und – das war die nächste Radikalisierungsstufe – für die deutsche Blamage am Waterberg. Das war es, was von Trotha umtrieb.
Diese Momente und situativen persönlichen Dispositionen sind aber im Genozidkonzept zu wenig repräsentiert. Anstatt von den Ereignissen auszugehen und daraus zu versuchen, verallgemeinerbare Erkenntnisse über diese Art von Megagewalt zu gewinnen, wird ein Konzept übergestülpt. Damit wird versucht, zwei Ereignisse in einen Zusammenhang zu stellen, die vielleicht bei näherer Betrachtung – wir machen das ja hier relativ unsystematisch – gar nicht so viel miteinander zu tun haben, außer dass es bestimmte Analogien gibt. Herr Zimmerer ist der Meinung, dass beide Ereignisse der gleichen Logik folgten. Ich bin jedoch der Ansicht, dass die Logiken sich extrem voneinander unterschieden.
Zum Aspekt der Asymmetrie: Kolonialkriege sind in der Regel asymmetrische Kriege. Herr Zimmerer selbst hat den Krieg in Osten als Kolonialkrieg bezeichnet. Wenn aber eine bestimmte Grundstruktur gar nicht vorhanden ist – in diesem Falle die symmetrische Auseinandersetzung bzw. für Kolonialkriege die asymmetrische Grundkonstellation eines Starken und eines Schwachen Kontrahenten -, dann lässt sich bereits ein fundamentaler Unterschied in der Grundkonstruktion feststellen.
Für wichtiger halte ich aber, dass hinter den beiden Kriegen eine andere Logik steckte. Bei der Kriegsführung gegen die Herero wurde seinerzeit im Deutschen Reich darüber debattiert, ob entfesselte Gewalt politisch funktional ist für das eigentliche Ziel – die Pazifizierung in Deutsch-Südwestafrika. Das lässt sich am Lavieren von Trothas und der Truppe ebenso wie an der vielfältigen öffentlichen Kritik an seiner Kriegführung zeigen.
Das alles spielt im Zweiten Weltkrieg überhaupt keine Rolle mehr. Hier ist entfesselte Gewalt das politische Moment. Es gibt keine zivile Instanz, die darüber reflektiert, ob sie politisch noch funktional ist oder nicht. Ruhe und Ordnung sind keine Kriterien für die Nationalsozialisten im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Das kann man am Generalgouvernement sehen: Die Gewalt, die sich zunächst nach Außen auf den Eroberungsfeldzug richtete, dreht sich und wird zu Terror nach Innen. Als 1941 der Krieg gegen die Sowjetunion beginnt, wird das Generalgouvernement umdefiniert, es ist jetzt Durchmarschgebiet. Es wird sogar überlegt, ob man es an das Großdeutsche Reich annektiert. Es kommt also zu einer Art neuem “Aggregatzustand” entgrenzter Gewalt innerhalb dieser Überlegungen des Zweiten Weltkrieges.
Der entscheidende Punkt scheint mir zu sein: Das politische Ziel war nicht, Ruhe und Ordnung in einer Kolonie herzustellen. Die Nationalsozialisten hatten völlig andere Denkhorizonte, den permanent entfesselten Kampf, der an keiner Grenze mehr Halt macht. Grenzen, sei es das Generalgouvernement oder zunächst der Warthegau, spielten keine Rolle mehr. Die Ostgrenze war eigentlich immer flexibel, nie genau definiert und wurde in den Überlegungen immer weiter vorangetrieben.
Ein dritter Punkt: Herr Zimmerer hat auf die Vielgestaltigkeit des Kolonialismus hingewiesen, der durch die Gleichzeitigkeit von Destruktion und Aufbau charakterisiert sei. Wo bleibt in seinem Vergleichsszenario dieses Moment des Aufbaus, das Herr Zimmerer als eines der Kernkriterien des Kolonialismus benannt hat, wenn man den Blick auf die deutsche Besatzungsherrschaft in Osteuropa richtet?
Jürgen Zimmerer:
Frau Kundrus postuliert, Asymmetrie sei das Konstitutivum des Kolonialkrieges. Wenn es fehlt, kann es sich nicht mehr um ein koloniales Setting handeln. Dieser Logik ist nicht zu widersprechen. Die Frage ist, ob es stimmt, dass es die technische Asymmetrie ist, die den Kolonialismus eigentlich definiert. Oder sind es nicht eher die Rassenideologie und das binäre Denken, die Dichotomie? Wenn man letzteres annimmt, dann gibt es Analogien zwischen Hererokrieg und dem Krieg im Osten. Dass es sich um einen kolonialen Rassenkrieg handelt, unterscheidet den Ostfeldzug auch vom Krieg an der Westfront.
Zur Aufbauleistung des Kolonialismus: Beim Siedlerkolonialismus ist eine Aufbauleistung im 19. Jahrhundert schlichtweg nicht vorhanden, zumindest was die kolonisierten Gesellschaften angeht. Diese wurde im 20. Jahrhundert herbeiphantasiert. Der Aufbau, der tatsächlich stattfand, umfasste den Aufbau der Siedlergesellschaft.
Es ist doch nicht so, dass der nationalsozialistische Krieg im Osten oder das nationalsozialistische Imperium nur dann kolonial ist, wenn es en miniature alle möglichen Elemente des Kolonialismus abbildet. Es geht doch vielmehr um die destruktiven Elemente, um das Gewaltpotential des Kolonialismus. Dieses findet sich in Osteuropa wieder. Warum, Frau Kundrus, wehren Sie sich eigentlich so sehr dagegen, dass man irgendetwas, was in Europa passierte, als kolonial bezeichnen könnte?
Reinhart Kößler:
Wir haben es mit einem historischen Geschehen zu tun, das in hohem Maß dem Konzept der “entangled history” entspricht. Es ist tatsächlich deutsche Geschichte in Namibia geschehen und zum herausragenden Teil auch namibische Geschichte in Deutschland. Das heißt, man kann Linien ziehen, die nicht unbedingt Kontinuitätslinien und Kausalketten sind, aber man kann Fragen stellen und sich über mögliche Forschungslinien unterhalten. Dabei sollte man aber die unterschiedlichen Probleme auseinander halten: Die Debatte über den Genozidbegriff einerseits und die Verbindungslinien von Kolonialkrieg und Holocaust andererseits.
Zur Frage des Genozidbegriffes: Die Intentionalität war beim Hererokrieg wesentlich eindeutiger, als Frau Kundrus das dargestellt hat. Die Briefe von Trothas, seine Auseinandersetzung mit Leutwein über die Frage der Vernichtung, sind einfach erdrückend: Es handelt sich um eine kontinuierliche Artikulation von Vernichtungswillen.
Eine weitere Überlegung: Jürgen Zimmerer hat darauf hingewiesen, dass der Genozid an den Herero – wie ich ihn nach wie vor nennen würde – in Deutschland seinerzeit breit kommuniziert wurde. Das unterscheidet ihn in jedem Fall vom Holocaust zum Zeitpunkt des Geschehens. Über diesen Kolonialkrieg wurden die so genannten “Hottentottenwahlen” samt intensivem Wahlkampf geführt, und es hat dazu eine breite zivilgesellschaftliche Mobilisierung gegeben, wie man bei Wehler, Nipperdey und anderen Historikern nachlesen kann. Die nationalen Verbände, nicht nur die Kolonialgesellschaft, sondern beispielsweise auch der Flottenverein haben massiv in den Wahlkampf eingegriffen. Es ist damals eine Neuordnung der deutschen parteipolitischen Landschaft erfolgt. Diese war wichtig für die weitere Entwicklung des radikalen Nationalismus in Deutschland, wie Geoff Eley das nennt. Es geht bei diesen Fragen nicht unbedingt um politische Konzepte oder strategische Vorgehensweisen der Armee, sondern um Denkmuster. Und es geht – da würde ich Jürgen Zimmerer zustimmen – um Entgrenzung.
Schwierigkeiten habe ich allerdings damit, wie beim Krieg im Osten die verschiedenen Prozesse analytisch auseinander gehalten werden können: Die Front, der Partisanenkrieg, die Einsatzgruppen und die Deportation von Juden aus dem Westen. Bei Letzterem handelt es sich meiner Meinung nach um einen völlig anderen sozialen Prozess, weil es dabei nicht um Entvölkerung ging. Gleichzeitig ist jedoch eine besonders radikale Entgrenzung festzustellen, weil sich das Geschehen auf unmittelbare Nachbarn und Bekannte bezieht.
Zum Problem der Verantwortung: Es gibt – und da muss man die “entangled history” durchaus national verstehen – auch heute eine Verantwortung gegenüber dem Geschehen in Deutsch-Südwest. Diese Verantwortung sollte man nicht durch den Verweis schmälern, dass es vor über hundert Jahren oder in kleinerem Maßstab als der Holocaust geschehen ist. Es geht hier nicht um eine Gleichsetzung mit dem Holocaust. Es ist jedoch nicht unwichtig, das Geschehen in Deutsch-Südwest als ‚Völkermord’ zu bezeichnen und das, was man von den Nachfahren der Überlebenden in Namibia hören kann, ernst zu nehmen. Dabei darf es keine Opferkonkurrenz geben, in der diejenigen, die auf der Täterposition stehen, sich Unterschiede in der Artikulationsfähigkeit, der Lautstärke oder in der Evidenz zunutze machen können.
Ulrich Herbert:
Frau Kundrus hat die Kategorien herausgearbeitet, die man zum Vergleich heranziehen kann. Dass verglichen werden muss, ist nachvollziehbar und richtig.
Die erste Kategorie ist die direkte Kontinuität: Es gibt einige Untersuchungen zum Thema personelle Kontinuität. Das Ergebnis ist jedoch nicht besonders eindrucksvoll. Bis auf einige Veteranen aus dem Kolonialkrieg, die bestimmte Funktionen im Dritten Reich innehatten, findet sich keine signifikante personelle Kontinuität. Gleiches gilt für militärische Konzepte: auch hier ist ein direkter Nachweis sehr schwierig. Alle Elemente einer direkten Kontinuität – etwa im Sinne einer personell vermittelten Kausalität – würde ich also zurückstellen.
Die zweite Kategorie sind Parallelen: Im Grunde sind das strukturelle Kategorien, die man herausarbeitet, um zu zeigen, dass es jenseits der unterschiedlichen zeitlichen Dimensionen und Bedingungen bestimmte Grundstrukturen von Massengewalt gibt, die mit dem Konzept Genozid erfasst werden können – oder auch nicht. Auch davon bin ich nicht sehr überzeugt. Man wird eine ganze Reihe von Parallelen und Analogien zwischen Kolonialkriegen und dem Krieg der Nationalsozialisten finden können. Doch dass es ein zentrales Element gibt, das beides als Varianten einer bestimmten Grundstruktur herausstellt, halte ich für fraglich.
Am interessantesten finde ich das, was Frau Kundrus “Transfer” genannt hat. Denn es lässt sich zeigen, dass die Vorstellungswelt eines Teiles der Protagonisten der NS-Eroberungspolitik koloniale Kategorien aufweist. Der Bezug auf das englische Kolonialreich taucht in der Korrespondenz insbesondere der SD- und RSHA-Führung immer wieder auf. Dieser koloniale Assoziationsrahmen der Nationalsozialisten kann durchaus weiter gefasst werden als ein bloßer Legitimationsrahmen. Er greift auch nicht direkt auf Deutsch-Südwest zurück, sondern viel platter auf die “Indianer”, die man im Wesentlichen aus Indianerbüchern kennt. Das Indianerbild von Adolf Hitler, der sich ja sehr oft darauf bezieht, ist das von Karl May. Wer da nach bedeutenderen Analogien sucht, wird fehlgehen. Im Prinzip sind das sehr banale Strukturen. Als Beispiel dafür lässt sich Heydrichs Aufbau der deutschen Geheimpolizei anführen. Wie er selbst sagte, hat er das Bild dieser Geheimpolizei aus Kriminalromanen englischer Autoren bezogen.
Es gibt also koloniale Träume und Perspektiven im Dritten Reich. Der tatsächliche kolonialpolitische Apparat der NSDAP spielte aber eine viel geringere Rolle. Die Deutsch-Südwestler galten im Dritten Reich als ein bisschen “vorgestrig”. Aber die Perspektive, ein Kolonialreich zu gewinnen – und zwar ein kontinentales Kolonialreich – war sehr virulent. Das gilt insbesondere für die Sowjetunion.
In dieser Hinsicht würde ich Frau Kundrus widersprechen. Zu Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion sah man ihn als einen asymmetrischen an, da man einen Sieg innerhalb von sechs Wochen erwartete. Nicht etwa nur die Nationalsozialisten, das glaubte die gesamte Fachwelt zu dieser Zeit, von Schweden bis Argentinien. Alle militärischen Experten waren einhellig der Meinung, dass nach den schnellen Siegen über die vermeintlichen Hauptgegner Frankreich und England das zusammenbrechende Russland nicht länger Widerstand leisten wird. Asymmetrie ist also ein Grundgedanke des Feldzuges im Osten. Dazu im Widerspruch steht allerdings das Empfinden einer strukturellen Defensive durch die deutsche Führung. Sie nahm an, dass man gegen eine Welt von Feinden zu kämpfen hat. Das war aber sehr stark bezogen auf den Westen und den Universalismus. Die Sowjetunion war gewissermaßen nur das kleine Anhängsel, das erobert werden musste, um sich auf London zu konzentrieren. So stellte sich die Situation im Frühjahr 1941 in der deutschen Führung dar. Die tatsächlichen Ereignisse resultieren also aus der Empfindung eines asymmetrischen Krieges und einer strukturellen Defensive, die beide schnelles und hartes Zuschlagen sowie eine radikale Entgrenzung implizieren.
Der Aspekt des Kolonialismus war in Bezug auf die Planung der deutschen Herrschaft in Osteuropa absolut zentral. Es ist unübersehbar: Der Generalplan Ost war ein kolonialer Plan. Die Ausstellung über den Generalplan Ost, die bis vor ein paar Wochen hier in Freiburg gezeigt wurde, hat das sehr deutlich gezeigt.
Interessant ist nun aber, dass der Rassismus, der beim Feldzug im Osten ganz bestimmt konstitutiv war, nicht unbedingt auf den Aspekt des Kolonialismus verweist. Soweit es den Generalplan Ost angeht und sich auf die russische Bevölkerung bezieht, besteht die Parallele. In Bezug auf den Holocaust aber bestimmt nicht. Deswegen ist der Buchtitel “Von Windhuk nach Auschwitz” für mich ein Problem. Angebracht wäre eher: “Von Windhuk zum Generalplan Ost”. In Auschwitz passierte etwas völlig Anderes: Dort wird eine als Motor des Fortschritts des Westens und gleichzeitig des Bolschewismus ausgemachte Bevölkerungsgruppe biologisch verantwortlich gemacht für die Irritationen der Moderne und deswegen ausgerottet. Hier haben wir es gewissermaßen mit dem Gegenteil eines Hererokämpfers zu tun. Hier sollten Fortschritt und Universalismus aus völkischen Gründen ausgerottet werden. An dieser Stelle empfinde ich Parallele, Analogie und auch Transfer als enorm problematisch.
Mein letzter Punkt betrifft die moralische Ebene: Ich habe das beklemmende Gefühl, dass die Genoziddebatte zum Legitimationsgewinn geführt wird. Die Parallelisierung zu Auschwitz verschafft Legitimationsgewinn, indem ich sagen kann: “Der Kolonialismus war genauso schlimm wie Auschwitz.” Letztlich führt dieses Unterfangen – wenn es empirisch nicht absolut dicht ist – jedoch immer in die Irre und verkehrt sich unter Umständen sogar ins Gegenteil. Ein Beispiel: Kulturminister Neumann und einige andere versuchen sich seit Jahr und Tag an der Parallelisierung der “beiden deutschen Diktaturen”. Doch die DDR hat zwar Aktenberge hinterlassen, aber keine Leichenberge. Hier würde ich für eine saubere Analyse – durchaus mit dem Begriff des Völkermords – plädieren, denn letztlich schaden Parallelen zum Legitimationsgewinn den eigenen analytisch-intellektuellen Zielen.
Birthe Kundrus:
Diese Debatte dreht sich doch vor allem um die Bedeutung des deutschen Kolonialismus für die deutsche Geschichte. Das ist gleichzeitig der Wert der Debatte, aber auch ihre Krux. Wir sollten den Kolonialismus als europäisches Phänomen sehen, und deshalb sollten wir auch in europäischen Dimensionen denken.
Man muss kontextualisieren, das ist das zweite Moment. Der Kolonialismus ist eine Entwicklung zu einer bestimmten Zeit. Es gibt parallel dazu andere, zum Beispiel den Antisemitismus. Dann gilt es abzuwägen: Welche einzelnen Momente sind wichtiger und welche unwichtiger in Bezug auf eine bestimmte Fragestellung, zum Beispiel die Kriegführung?
Ein positiver Aspekt für die NS-Forschung ist, dass sie durch die Anstöße aus der Kolonialismusforschung aus ihrem “Dämmerzustand” gerissen wird und dazu gezwungen wird, die Verallgemeinerungsfähigkeit der eigenen Aussagen zu überprüfen. Diese ist gegenwärtig ja sehr detailreichen Studien verhaftet und kann uns zum Beispiel genau sagen, an welchem Tag im Warschauer Ghetto wie viele Juden umgebracht worden sind. Aber sie verfolgt nicht mehr die “roten Linien” des 20. Jahrhunderts, die die Geschehnisse in Osteuropa im historischen Kontext verorten könnten. Wir befinden uns im Augenblick also in einer Dilemmasituation. Es wäre erfreulich, wenn die Kolonialismusforschung Erfolg haben und diesen “Dämmerzustand” beenden würde. Das Resultat könnten lesbarere Bücher über den Nationalsozialismus sein.
Jürgen Zimmerer:
Was eine bestimmte Strömung der Genozidforschung anbelangt, ist der letzte Einwand von Herrn Herbert sicherlich gerechtfertigt. Das bedeutet jedoch noch nicht, dass das Genozidkonzept deshalb absurd oder ungeeignet sein muss. Wenn wir gänzlich auf den Begriff verzichten, wie Christian Gerlach das ebenfalls verlangt, haben wir als Wissenschaftler ein Problem: Wir ziehen uns vom Genozidbegriff zurück, dieser wird aber weiterhin überall verwendet, zum Beispiel in der Politik. Wir sollten eher prüfen, ob es möglich ist, das Genozidkonzept so zu verwenden und theoretisch zu unterfüttern, dass es brauchbar ist – auch für Vergleichsarbeiten. Ich denke, das ist durchaus möglich.
Ich halte es für eine Unterstellung, die gesamte Genozidforschung strebe über den Vergleich des Kolonialismus mit dem Nationalsozialismus lediglich einen Legitimationsgewinn an. Denn umgekehrt kann man in der Weigerung, das Kolonialismuskonzept auf den NS anzuwenden, eine Apologetik des Kolonialismus, ein Herunterspielen sehen. Das gilt natürlich nicht für die gesamte Forschung, aber es finden sich Fälle, in denen das passiert.
Um nach vorne zu blicken: Was bringt es uns für das Verständnis des Kolonialismus, wenn wir den Nationalsozialismus als Kolonialismus verstehen, und was bringt es uns für das Verständnis des Nationalsozialismus? Bringt das einen heuristischen Gewinn?
Ulrich Herbert:
Der Ostfeldzug kann als Kolonialismus verstanden werden, aber doch nicht der Nationalsozialismus als ganzes.
Jürgen Zimmerer:
Wenn man sich fragt, in welchem Maße Kolonialismus im Nationalsozialismus enthalten ist, so lautet Ihre Antwort – die ich durchaus teile: Gewisse Elemente des Ostfeldzuges enthalten koloniale Elemente. Wenn man herausfinden möchte, was das spezifisch Neue an den nationalsozialistischen Verbrechen war, müssen wir uns von der Vorstellung lösen, es wäre nichts davon aus der Geschichte gekommen. Wenn manche Autoren die Reservatspolitik in Osteuropa als ein Novum der Weltgeschichte darstellen, bringt das die NS-Forschung überhaupt nicht weiter. Denn das Spezifische können wir nur verstehen, wenn wir bereit sind zuzugeben, dass manche Elemente so neu gar nicht waren.
Der eigentliche Holocaust, also die Ermordung der Juden, war in der Tat nicht kolonial, zumindest nicht in der Form wie der Ostfeldzug. Aber die Rede vom “Zivilisationsbruch” stammt auch nicht von mir. Welches Tabu ist denn im Nationalsozialismus erstmals gebrochen worden? Jedenfalls nicht das Tabu, dass man ganze Ethnien nicht umbringen darf.
Ulrich Herbert:
“Zivilisationsbruch” meint bei Diner den Bruch des Rationals, jemanden umzubringen, der lebend mehr “Nutzen” für den Täter hätte.
Jürgen Zimmerer:
An dieser Stelle kann ich nur auf die berüchtigte Debatte zwischen von Trotha und Leutwein verweisen. Als Trotha seine Vernichtungsabsicht kundtut, antwortet Leutwein, dass der Mord an den Herero doch Wahnsinn sei, da man sie als Arbeitskräfte bräuchte. Von Trotha antwortet, dass Deutsch-Südwestafrika weißen Mannes Land sei. Solle der weiße Mann den Pflug doch selbst ziehen. Hier haben es wir doch mit genau dieser Logik zu tun, die Diner als Zivilisationsbruch bezeichnet. Deshalb plädiere ich dafür, den Nationalsozialismus auch einmal mit dem kolonialen Instrumentarium zu untersuchen, weil es uns weiter bringen kann.
Eine der heiß diskutierten Fragen ist dabei immer: Wie werden so viele Deutsche zu willigen Vollstreckern, zu Tätern? Warum beginnt dieser Tabubruch, dieses Menschheitsverbrechen? Eine mögliche Antwort ist: Weil es ihnen nicht klar war, dass sie ein Menschheitsverbrechen begehen. Weil sie eben aus Karl May-Büchern, aus der Kolonialliteratur wussten, wie man mit “primitiven Völkern” umgeht. Und weil sie glaubten, dass das ganz normal sei, weil es durch alle anderen europäischen Kolonialmächte ebenso ausgeführt wurde.
Ich plädiere dafür, diese Fragen zu stellen. Denn nur so kommen wir auf den Kern des Verbrechens, der sich nicht ableiten lässt aus früheren Ereignissen. Aber wir können nicht schon a priori postulieren, dass keine Verbindung besteht.
Zuhörer:
Frau Kundrus, Ihr Vortrag leidet daran, dass einige Sachverhalte falsch bewertet werden. Ein Beispiel: Sie sagen, strukturell waren die beiden Kriege nicht vergleichbar, da in dem Hererokrieg immerhin noch eine zivil eingegrenzte militärische Gewalt vorhanden war, und das letzte Ziel die Befriedung war. Im Ostfeldzug hingegen sei das Militär nicht mehr zivil eingegrenzt gewesen. Der oberste Führer des Dritten Reiches war aber ein Zivilist, und das Primat der Politik hätten weder Hitler noch die Partei jemals durch das Militär in Frage stellen lassen. Zivil eingegrenzt war die Wehrmacht also in jeder Hinsicht.
Der zweite Punkt: Wir wissen seit Hillgruber, was das Dritte Reich und Hitler und natürlich auch die Wehrmacht wollten. Der Feldzug gegen die Sowjetunion war dabei nur ein Zwischenziel, dem die Beherrschung folgen sollte, wenn auch mit Terror. Friede im Land – auf welche Weise auch immer – war auch das Ziel des Ostfeldzuges. Einen strukturellen Unterschied zum Hererokrieg gibt es nicht.
Birthe Kundrus:
Es geht nicht um die strukturellen Unterschiede, es geht um Logiken. Was waren denn die Hauptlogiken des deutschen Krieges gegen die Sowjetunion? War er ein Kolonialkrieg? Er war kein Kolonialkrieg, weil sich die Logiken fundamental voneinander unterschieden. Der Kolonialkrieg gegen die Herero war eine klassische Pazifizierungsaktion. Beim Krieg gegen die Sowjetunion ging es nicht um Pazifizierung. Es ging um Annektion, um Eroberung fremden Terrains, Entstaatlichung, Entnationalisierung und Entgesellschaftlichung. Das war ein Weltanschauungskampf.
Transkription: Fabian Holzheid. Redaktionelle Bearbeitung: Fabian Holzheid/ Christian Stock
SEMINAR am 8.2.2008
Jörg Später (Moderation): Meine erste Frage an Herrn Zimmerer lautet: Wozu vergleichen wir historische Ereignisse? Wem dient das? Die Opfer aller Länder und aller Zeiten arbeiten sich beständig an diesem Thema ab, um auf das eigene Leid hinzuweisen und Anerkennung einzufordern. Das scheint mir der Subtext dieser ganzen Debatte und des Vergleichs zu sein, so wie das Ablehnen eines Vergleiches dazu dient, die Singularität des Holocausts zu betonen. Aus einer wissenschaftlichen Perspektive haben Sie, Herr Zimmerer, versucht, Antworten zu geben, wozu ein Vergleich vielleicht dienen kann. Aber ich möchte die Frage noch einmal grundsätzlich aufwerfen: Wozu vergleichen?
Meine zweite Frage bezieht sich auf die Verwendung des Genozidbegriffes, der ja den Vergleich scheinbar schon impliziert. Denn an der Judenvernichtung ist der Begriff ja entwickelt worden, und wer ihn verwendet, bezieht sich indirekt auf die Shoah. Wozu brauchen wir den Genozidbegriff?
Jürgen Zimmerer:
Ein Umstand wurde in der Podiumsdiskussion gestern vielleicht nicht deutlich: Es gibt verschiedene Arten, auf Gewalt zu blicken. Man kann ein Forschungsinteresse am Dritten Reich oder am Hererokrieg haben, oder an Australien, Armenien, Ruanda. Die Verwendung des Holocaust als Ausgangspunkt der Untersuchung stellt für mich bereits schon eine spezifisch eurozentrische oder deutsche Verengung dar. Das Forschungsinteresse kann sich doch auch auf vorher oder danach geschehene Massengewalt richten.
Wichtig für das Verständnis heutiger Fälle wie Ruanda oder Darfur ist in der Genozid- oder Gewaltforschung die Suche nach ähnlichen Fällen oder Gründen für die Entstehung solcher Massengewalt. Deshalb erscheint es mir nützlicher, das offen zu thematisieren und deutlich herauszustellen, wo die Gemeinsamkeiten sind und die Unterschiede. Denn Genozidforschung ist ja nicht auf Geschichtswissenschaft beschränkt. Es wird versucht, Massengewalt in der Geschichte als Phänomen zu verstehen, Ursachen aufzudecken und auch zu klären, wie man heute damit umgeht – das ist ein Aspekt, der in der Diskussion immer zu kurz kommt.
Wie gehen Opfer von Massengewalt mit ihrer Erfahrung um? Gibt es Lernprozesse, Hilfsprozesse, die man aus dem Umgang einer Gruppe mit einer ähnlichen Erfahrung für die Anderen lernen kann? Für die Herero wurde der Versuch kaum unternommen, aber zum Holocaust gibt es eine sehr breite Forschung über Überlebende und deren Probleme – sowohl aus der Täter- als auch aus der Opferperspektive. Und vielleicht kann das den Herero tatsächlich eine Hilfestellung sein beim Versuch, zu verstehen, was der eigenen Gruppe widerfahren ist.
Betrachtet man die Genozidforschung, dann ist der Holocaust der mit Abstand am besten untersuchte Fall. Wir wissen über keinen anderen Fall von Massengewalt so viel wie über den Holocaust. Deshalb ist er auch so wichtig für die Beschäftigung mit dem Thema, weil man theoretische und methodische Anregungen gewinnen kann.
Birthe Kundrus:
Grundsätzlich würde ich zustimmen, dass der Vergleich in der Wissenschaft ein heuristisches Verfahren ist. Durch ihn kann man Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausfinden und Spezifika feststellen. Eben das wird uns ermöglicht, wenn wir Kolonialismus und Nationalsozialismus als zwei Herrschaftssysteme gegenüberstellen. Vielleicht schärft das unseren Blick. In der Diskussion gestern haben wir besonderen Wert auf den Aspekt der Kriegsführung gelegt, aber man kann das sicherlich noch auf andere Formen von Herrschaft erweitern.
Um den Vergleich als solchen kommen wir gar nicht herum, im Gegenteil. Ich finde ihn äußerst sinnvoll und notwendig, weil wir – genau wie Herr Zimmerer sagte – auch etwas über die Genese und die Dynamiken solcher exzessiver kollektiver oder staatlicher Gewalt herausfinden wollen.
Nun gibt es natürlich – und das ist die politische Implikation solcher Forschung – Schlussfolgerungen für eine politische Praxis, solche Ereignisse zu verhindern. Welche Möglichkeiten der Einhegung von entgrenzter Gewalt gibt es? Ob wir dazu als Historiker, Soziologen, Anthropologen oder Literaturwissenschaftler tatsächlich etwas beisteuern können, eine unmittelbare Anwendbarkeit in Bezug auf die Prävention solcher Ereignisse herstellen können, wage ich zu bezweifeln. Das ist jedoch die Frage nach der politischen Dimension. Für den wissenschaftlichen Bereich aber erscheint es mir unabdingbar, solche Vergleiche zu unternehmen.
Die gute Erforschung des Holocausts ist einer jahrzehntelangen wissenschaftlichen Befassung damit geschuldet, die allerdings die Bundesrepublik erst relativ spät erfasst hat. Durch die Größenordnung der Shoah – und trotz aller Bemühungen, Quellen zu vernichten – ist es außerdem gelungen, erstaunlich viele Quellen zu retten. Wir haben also einen reichen Quellenkorpus zum Nationalsozialismus. Einerseits ist damit großartige Arbeit geleistet worden, deren Erkenntnisse man jetzt nutzt. Andererseits wird dieses unheimlich vielfältige und verästelte Wissen jetzt zum Problem der Forschung, da sie sich allzu sehr an Detailfragen abarbeitet.
Alle vergleichende Gewaltforschung nimmt sich also den Holocaust zum Vorbild. Das hat auch seine Berechtigung, mitunter führt es aber in die Irre, wenn man ein Modell entwickelt, und dieses auf andere Länder, Zeiten und Kontinente überträgt. Das Problem ist: Wie verallgemeinerbar ist ein solches Modell für andere Gewaltabläufe derartiger Dimension?
Jörg Später:
Es hat sechzig Jahre bis zum Erscheinen der ersten Monographie gedauert, die eine Opferperspektive entwickelt. Saul Friedländers Buch ist also insofern ein Novum, dass es erstmals versucht, das ganze Geschehen aus der Opferperspektive darzustellen. Bis jetzt war NS-Forschung meistens Täterforschung.
Birthe Kundrus:
Saul Friedländers Buch ist innovativ, da es Täter- und Opferperspektive zusammenzuführen versucht. Dan Diner hat das als eine zwischen Tätern und Opfern “widerstreitende Geschichte” definiert.
Jörg Später:
Die Opferperspektive gibt es im Falle der Herero und Nama jedoch nicht in gleichem Maße. Es gibt wohl keine Monographie, die emphatisch das Geschehen aus dieser Perspektive zu schildern versucht. Das wirft für mich das Problem der Opferkonkurrenz auf. Der ganze Vergleichsstreit läuft wie ein Wettbewerb ab, der immer wieder am Holocaust abgearbeitet wird. Pauschal gesagt, sind Afrikahistoriker eher zugeneigt, solche strukturellen Ähnlichkeiten oder Affinitäten festzustellen, während NS-Forscher diese meist konsequent ablehnen. Das ist kein Zufall, das hat etwas mit Wissenstradition zu tun. Mit dem Gegenstand, mit dem man quasi “verheiratet” ist, und mit der Konkurrenz der Opfer.
Auch die “gegenläufige Erinnerung” stellt ein Problem dar. Dan Diner hat das einmal schlüssig am Datum des 8. Mai festgemacht. Dieser ist – zumindest in Westeuropa – als Tag der Befreiung in das kollektive Gedächtnis eingegangen. An einem 8. Mai fanden aber auch in Algerien in mehreren Städten große Demonstrationen der nationalen Unabhängigkeitsbewegung statt. Gefordert wurde die Entlassung Algeriens in die Unabhängigkeit, nachdem man sich auf Seiten der Franzosen im Zweiten Weltkrieg engagiert hatte. Diese Demonstrationen wurden brutal niedergeschlagen, es gab Zehntausende von Toten in drei Orten, und es stellte sich heraus, dass die “Befreier”, die Sieger des Zweiten Weltkrieges, zu dessen Versinnbildlichung und “Ikone” sich dann die Shoah entwickelte, weiterhin koloniale Unterdrücker blieben.
Es bildete sich also etwas wie ein antikoloniales Gedächtnis, eine antikoloniale Erfahrung des Zweiten Weltkrieges heraus und gleichzeitig im Widerstreit dazu das Auschwitz-Gedächtnis. Hieraus entstand ein Konkurrenzverhältnis, was sich zusätzlich durch den Nahostkonflikt verkomplizierte. Die Entstehung von Israel kann man als partikularistische Antwort auf die Erfahrung der Shoah interpretieren, die jedoch im antikolonialen Gedächtnis als Entstehung eines kolonialen Erobererstaates wahrgenommen wurde. Dieser wurde ja durch die berühmte UN-Deklaration als “rassistisch” gebrandmarkt (man kennt ja noch die Formel “Zionismus = Rassismus”), so dass ein antirassistisch-antikoloniales Gedächtnis in Konkurrenz zu einem anti-antisemitischen Gedächtnis steht. Die Debatte hat also einen doppelten Boden, und sie ist politisch kontaminiert.
Lydia Ehler:
Die Täterperspektive der Geschichtsschreibung kommt ja zu ganz dubiosen Kontinuitäten wie zum Beispiel die Sonderwegsthese, während die Opferperspektive viel mehr das Situative in den Vordergrund stellt, wie auch Dan Diner sagte.
Somit scheint es, als wäre die Feststellung von Kontinuitäten von der Opferperspektive aus gesehen nicht sinnvoll, wenn wir den Opfern zuhören, die ja immer wieder feststellen wollen, dass das erlebte genozidale Geschehen einen Bruch darstellt. Andererseits muss man festhalten, dass es nur dort Brüche gibt, wo es auch Kontinuitäten gibt. Es stellt sich nun also die Frage, welche Kontinuität – nicht welcher Transfer- sinnvoll zu konstituieren ist, wenn doch gleichzeitig jede Kontinuität einen subjektiven Charakter hat.
Deshalb frage ich mich, ob man nicht gerade die Erfahrungswelt der Opfer mit hinzuziehen sollte. Diese haben etwas erlebt, was sich jedem rationalen Verständnis entzieht. Das betonen die Opfer – gerade die Holocaustopfer – ja immer wieder. Die Opfererfahrung straft also jede Kontinuitätsthese Lüge, die sich an strukturelle Kontinuitäten hält. Meine Frage ist, warum die Geschichtsschreibung die Opfererfahrung nicht ernst nimmt, obwohl diese einen erhellenden Blick auf das Geschehnis als Solches geben könnte.
Birthe Kundrus:
Ich kann diese Vernachlässigung der Opferperspektive in der NS-Forschung nicht ausmachen. Die Literatur zu Konzentrationslagern beispielsweise stützt sich sehr stark auf die Erfahrungen der ehemaligen Insassen, mit Hilfe von “oral history”, Befragungen und autobiographischen Zeugnissen – nehmen sie Primo Levi oder andere. Sie sind in hohem Maße für die Darstellung der schrecklichen Lebensbedingungen in den Konzentrationslagern herangezogen worden.
Jörg Später:
Gerade wenn man die Lagerliteratur betrachtet, kann man sehen, wie heterogen diese Erfahrung ist, dass man also eine Vielzahl von Stimmen hat. Nehmen sie Primo Levi, der das Entmenschlichte in den Vordergrund stellt, nehmen sie einen Roman von Imre Kertész, der genau gegenteilige Lagererfahrungen hat, nehmen sie Ruth Klüger, die nochmal eine andere Lagererfahrung hat. Das sind subjektive Stimmen. Man kann also keine Aussagen fällen wie: “So ist das Lager. Das Lager hat diese und jene Erfahrungen, Folgen, Traumata zur Folge”.
Jürgen Zimmerer:
Wir sollten uns darauf einigen: Alle Genozidopfer machen eine Erfahrung, die nicht rational ‚aufgearbeitet’ werden kann. Eigentlich müssten wir sogar sagen: Alle Opfer von Gewalt machen diese Erfahrung. Wenn man das auf alle Genozidopfer beschränkt, brauchen wir bereits eine Definition, was Genozid ist. Dem kann man dem zustimmen oder man kann es ablehnen, aber was bringt uns das?
Sie, Herr Später, wollen ja schon auf eine bestimmte Art von Gewalt hinaus. Das bringt uns direkt in die Debatte, was ein Genozid eigentlich ist. Welche Opfer des Dritten Reiches sind Opfer des Genozids? Gibt es andere Opfer von Genoziden? Gibt es Genozide außerhalb der Geschichte des Dritten Reiches?
Es stimmt nicht, dass es die Opferperspektive in der Kolonialismusforschung nicht gäbe. Ich behaupte sogar, zwischen Ende der 1960er Jahre und Anfang 2001/2002 war die Opferperspektive dominierend, der Versuch, an die Erfahrung der Opfer heranzukommen. Die Täterforschung ist in diesem Fall eher wieder etwas Neues. Ein anderes Problem ist: Wer betreibt die Opferforschung im Falle des Kolonialismus? Das machen natürlich Europäer oder Nordamerikaner. Es ist unmittelbar mit dem Kolonialismus als Phänomen verbunden, dass es kaum oder vergleichsweise wenige Herero- oder Nama-Historiker, -Soziologen und -Politologen gibt. Aber es gibt Herero- und Nama-Geschichtsschreibung. Wir sind vielleicht nicht zu einem Ergebnis gekommen, das uns alle befriedigt. Aber dass die Suche nach der Synthese von Täter- und Opfergeschichtsschreibung nicht unternommen worden wäre, das halte ich so nicht für korrekt.
Es ist eher ein Problem, dass wir hier in Freiburg, in Deutschland als Historiker die Literatur, die über Herero und Nama geschrieben wurde, einfach nicht zur Kenntnis nehmen. Dass ein gestandener Deutschlandhistoriker sich eher die Hand abhackt, als das Journal of African History aufzumachen.
Birthe Kundrus:
Das ist der Unterschied. Wir sind vielleicht nicht zu einem Ergebnis gekommen: Was hat die Herero angetrieben, warum haben sie sich am Waterberg versammelt? Aber der Versuch ist unternommen worden. Ich höre bei Ihnen [zur Studentin] eine unbedingte Parteilichkeit für die Opfer heraus. Das führt uns jedoch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung nicht weiter.
Zweitens: Was wollen Sie aussagen, außer dass es viele Erfahrungen von Opfern kollektiver entgrenzter Gewalt gibt, und nicht nur die eine Erfahrung der “Sinnsuche”? Diese Sinnsuche ist vielleicht schon etwas, was Opfer von Gewalt eint: “Warum ich?” Das gilt sowohl für individuelle als auch für kollektive Gewaltereignisse: “Warum wurde ich vergewaltigt, überfallen, ausgeraubt, entführt? Warum musste ich ins KZ?” Das ist eine Frage, die sich alle Opfer irgendwann stellen. Aber die Antworten darauf fallen sehr unterschiedlich aus.
Christian Stock:
Es war hier schon von Opferkonkurrenz die Rede, und ich wollte nochmals unterstreichen was Jörg Später darüber gesagt hat. Das lässt sich an einem Beispiel erläutern: es gibt ein Buch von Rosa Amelia Plumelle-Uribe, “Die weiße Barbarei”. Plumelle-Uribe ist Afro-Kolumbianerin und arbeitetet als Wissenschaftlerin in Paris. Der erste Teil ihres Buches ist sehr berechtigt, denn es wird nachgewiesen, dass die Geschichtswissenschaft und die Öffentlichkeit sich viel zu wenig mit den Kolonialverbrechen der Weißen an den Schwarzen, wie sie das bezeichnet, auseinandergesetzt haben.
Den zweiten Teil des Buches finde ich sehr ärgerlich, denn da versucht sie nachzuweisen, dass die Juden nach der Shoah nur deshalb bevorzugt als Opfer behandelt wurden, weil sie Weiße waren. Dass sie großzügige Entschädigungen erhalten haben – was so überhaupt nicht stimmt. Sie seien also im Vergleich zu den Schwarzen eine bevorzugte Opfergruppe gewesen. Das Buch mündet dann in eine wüste Anklage gegen Israel als Apartheidstaat, als kolonialer Unterdrücker der Neuzeit etc. Das sei nur als abschreckendes Beispiel dafür angeführt, wozu eine Opferkonkurrenz führen kann. Es wird dabei politisch instrumentalisiert, und es geht hier nicht nur um innerwissenschaftliche Auseinandersetzungen. Auch innerhalb der Wissenschaften wird Politik betrieben.
Ein anderer Aspekt – und das kam bisher zu kurz – ist die Frage, was denn die ideologischen Hintergründe für die Kolonialverbrechen einerseits und die Shoah andererseits sind? Der Kolonialrassismus auf der einen Seite und der Vernichtungsantisemitismus auf der anderen Seite – beim Russlandfeldzug auch Antibolschewismus und Antikommunismus – unterscheiden sich als ideologische Motivlagen doch erheblich voneinander. Deswegen würde ich auch bei der Genealogie, die Herr Zimmerer herauszuarbeiten versucht, doch sehr stark auf die Brüche und Diskontinuitäten verweisen wollen.
Viele Kolonialhistoriker und antirassistische Theoretiker behandeln den Antisemitismus, als sei er ein Unterfall von Rassismus. Es sei einfach nur eine bestimmte Gruppe, die Juden, die von rassistischer Unterdrückung betroffen seien. Das stimmt aber nicht. Der Kolonialrassismus sah in den “Schwarzen und Negern” zunächst minderbemittelte Menschen, denen geholfen werden musste, das waren “Kinder, die man erziehen muss”. Erst mit dem Hererokrieg kippte das in Deutschland, man nahm sie nun auch als Feind wahr, oder als ungehorsam gewordene, pubertierende Kinder, die man mit harter Hand züchtigen muss. Es stand dabei aber immer eine absolute Überlegenheit gegenüber der “minderen schwarzen Rasse” im Vordergrund.
Beim Antisemitismus ist das anders. Die Juden wurden als perfide, als verschlagen, als Unterdrücker, als Verschwörer gehandelt. Sie wurden haftbar gemacht für das, was man die “Verwerfungen der Moderne” nennt. Man hat sie als überlegen und daher gefährlich angesehen. Und deshalb mussten sie laut NS-Ideologie vernichtet werden, weil sie eine große Gefahr für das “deutsche Volk”, aber auch für die ganze Welt darstellten.
Das sind ganz andere Perspektiven, und deshalb finde ich, dass die Rede “Von Windhuk nach Auschwitz” den Kern des Problems nicht trifft. Wenn, dann ließe sich noch am ehesten sagen “Von Windhuk nach Stalingrad”, denn im Osten gab es wirklich koloniale Eroberungszüge. Aber auch hier ist die antibolschewistische Ideologie etwas völlig Anderes gewesen als der Kolonialrassismus.
Lydia Ehler:
Ich würde gerne noch einmal darauf hinweisen, dass es sinnvoll ist, die Erlebniswelt und die Erfahrung in den Vordergrund zu stellen, und dass gerade auch jetzt, wo bald eine Geschichtsschreibung, wie Friedländer sie unternimmt, nicht mehr möglich ist, diese fortgeführt werden sollte. Es sollte weiterhin versucht werden, sich diese Erfahrung anzueignen. Vielleicht funktioniert das über eine Identifikation. Dan Diner schlägt vor, dass man sich die Rolle des Judenrates verinnerlicht, wo Täter- und Opferperspektiven in Eins fallen.
Jürgen Zimmerer:
Sie, Herr Stock, haben das Beispiel von Frau Plumelle-Uribe angeführt. Dazu muss ich sagen: Sie sieht sich als “survivor”, als Teil einer Opfergruppe. Sie hat das Recht, zu sagen, was immer sie möchte. Das ist ihr individueller Umgang mit ihrem Leid. Gleichzeitig sagen alle, die ihr Buch gelesen haben: Es ist unsäglich. Es nimmt niemand ernst, und es entbehrt jeglicher Grundlage. Aber wir können es akzeptieren, da es ihr gutes Recht ist, mit ihren traumatischen Erfahrungen umzugehen, wie sie will. Dieses Buch ist de facto eher Literatur als Forschung.
Was mich an dieser uralten Debatte stört, welche Perspektive man einnehmen darf, ist: warum muss man sich denn entscheiden, welche zulässig ist und welche nicht? Warum sind nicht, je nach Erkenntnisinteresse, je nachdem, wer man ist und was man herausfinden möchte, verschiedene Perspektiven legitim? Das ist eine Frage, die sie mir beantworten müssten.
Reinhart Kößler:
Vielleicht muss man wirklich, um Erfahrungen zu transportieren, Gedichte oder Musik schreiben oder Bilder malen. Das kann durchaus die unmittelbarere Form sein, sich Anderen verständlich zu machen. Es geht ja darum, das nicht Kommunizierbare irgendwie kommunizierbar zu machen. Doch was kann die Wissenschaft in Kenntnis ihrer Grenzen dennoch tun? Sie kann Literatur, Kunst oder Musik als Quelle oder Material nehmen, das sie analysiert und mit ihren Begriffen zu verstehen versucht. Und sie kann Zeugnisse von Opfern aufarbeiten. Sie kann – soweit möglich – tiefenbiographische Interviews machen.
Das sind Möglichkeiten, die durchaus wahrgenommen werden, und das gilt auch für den herero-deutschen Krieg. Da ist die Quellenlage nicht so reichhaltig wie im Falle des Holocaust, aber es gibt durchaus einige Beiträge. Es gibt beispielsweise einen Aufsatz, der Lieder von Herero in Botswana über ihre Flucht thematisiert. Das sind erschütternde Dokumente. Aber man muss sich gleichzeitig im Klaren darüber sein, dass die Wissenschaft irgendwann ihre Grenze erreicht.
Lydia Ehler:
Ich habe nicht gemeint, dass eine Perspektive wertvoller sei als die andere. Ich glaube nicht, dass es überhaupt möglich ist, eine Wissenschaft nicht aus einer bestimmten Perspektive zu betreiben. Ich halte es aber im Hinblick auf eine kosmopolitische Identität für sinnvoll, dass die Täter- und Opferperspektive in Eins fällt.
Jürgen Zimmerer:
Das sind theoretische Forderungen, die man gut aufstellen kann. In der Praxis hat man ein Problem. Darf denn ein Europäer, ein Weißer die Opferperspektive einnehmen? Es gibt dann von afrikanischer Seite den Vorwurf, wie man sich als Europäer erdreisten könnte, zu glauben, man könnte diese Erfahrungen schildern. Kann ich also als Täter nur Täterperspektive schreiben, als Opfer nur Opferperspektive? Wessen Geschichte ist es eigentlich, gibt es einen privilegierten Zugang zur Wahrheit? Weil man selbst von einer bestimmten Hautfarbe ist? Das sind Probleme, die in der täglichen Forschungstätigkeit auftauchen, und die sehr schwierig zu umgehen sind.
Zur Etablierung eines Wettbewerbs der Opfer: Das ist ja der latente Vorwurf an die Wissenschaft, die vergleichende Genozidforschung betreibt. Er ist aber nicht fair, da er nicht durch die Sache gestützt wird. Denn die meisten Wissenschaftler, die dazu arbeiten, verwahren sich dagegen und betonen, dass es nicht um einen Wettbewerb der Opfer geht. Der Wettbewerb entsteht erst dann, wenn die Opfer darüber reden. Wie geht man mit dieser “Opferperspektive” um? Wie geht man damit um, wenn ein Herero sagt: “Die Ermordung meiner Großmutter im Konzentrationslager Haifischinsel empfinde ich als genauso schlimm wie die Ermordung einer jüdischen Großmutter in Dachau oder Auschwitz.”
Wir müssen uns also darauf beziehen, was die Wissenschaft machen kann. Und die etabliert keinen Wettbewerb der Opfer, wenn sie sagt, dass es Fälle von Massengewalt gibt, die genug strukturelle Ähnlichkeit aufweisen, dass man sie in eine Typologie von Gewalt überführen und darauf untersuchen kann: Woher kommt diese Gewalt, wie kommt man aus dieser Gewalt wieder heraus? Denn diese Art von Gewalt wiederholt sich ja. Es ist ja nicht so, dass genozidale Gewalt nur ein historisches Phänomen ist. Sie geschieht in diesem Moment in Darfur, während wir hier theoretisieren.
Christian Stock:
Was das Recht der Opfer betrifft, sich frei dazu äußern zu können, stimme ich Ihnen völlig zu. Ich wünschte, Sie hätten auch Recht, was die Wissenschaft betrifft. Aber Sie entwerfen ein Wunschbild von der Wissenschaft. Ulrich Herbert hat das gestern schon angedeutet: Es gibt im totalitarismustheoretisch argumentierenden Sektor der Genozidforschung sehr wohl ein Aufrechnen. Dieser Vorwurf ist nicht an Sie gerichtet, aber es findet längst statt, etwa beim Hannah-Arendt-Institut in Dresden.
Birthe Kundrus:
Das ist wieder die Diskussion um den Genozidbegriff. Das Problem ist, dass dieser Begriff unheimlich viel leisten soll. Er hat eine wissenschaftliche, eine politische, eine rechtliche Funktion. Das ist eine Überforderung. Er legt politisch nahe, es gäbe eine Hierarchie der Opfer. Genozid ist sozusagen “the crime of all crimes”. Das ist eine politische Instrumentalisierung oder Benutzung des Begriffes, und das ist ein Problem. Damit müssen wir als Wissenschaftler umgehen.
Deshalb würde ich dafür plädieren, sich vom Genozidbegriff zu lösen und die Ereignisse anzuschauen. Wir kommen so zumindest um die Einordnung herum: “Dieser Fall ist ein Genozid, dieser nicht.” Wir wären bei Ereignissen von massenhaft entgrenzter Gewalt nicht sofort in diesen Genoziddiskurs verwickelt, der politisch, rechtlich, normativ und empirisch aufgeladen ist. Ich empfände das als Befreiung.
Jürgen Zimmerer:
Der Genozidbegriff ist aber schon ein rationalisierter und ent-emotionalisierter Begriff. Wenn wir ihn aufgeben, gewinnen wir gar nichts. Wir können postulieren, dass Wissenschaft von jeglicher Politik losgelöst ist. Wenn man aber – und dazu bekenne ich mich offen – der Meinung ist, dass man als Wissenschaftler eine politische und moralische Verantwortung hat, wenn man die Politik kritisch begleiten soll, dann müssen wir den Genozidbegriff in diese Debatten führen und versuchen, ihn zu versachlichen. Denn außerhalb des Elfenbeinturms wird das Konzept benutzt, und mit ihm wird Politik gemacht. Übrigens von beiden Seiten. Es sind ja nicht nur die Nicht-Holocaust-Opfer, die den Begriff instrumentalisieren.
Jörg Später:
Deswegen ist es ja auch kein Vorwurf, diese Opferkonkurrenz festzustellen, sondern der Appell, zu reflektieren, was der doppelte Boden der Debatte ist. Man kann nicht, wie Martin Broszat das immer getan hat, vom Pathos der Nüchternheit, von der objektiven Zeitgeschichte sprechen. Und wenn man das Gefühl hat, dass Begriffe, die zur Analyse dienen, sich verselbstständigt haben und im Kontext der Öffentlichkeit anders besetzt sind, dann löst man sich davon. Warum sich nicht vom Begriff des Holocaust lösen? Raul Hilberg hat schlicht und ergreifend vom Judenmord gesprochen, das finde ich eigentlich viel besser als diese gefüllten “Behälter”.
Birthe Kundrus:
Es geht nicht darum, zu sagen: “Der Begriff hat sich nicht bewährt.” Er hat durchaus Erkenntnisse gebracht. Doch ich finde, es ist an der Zeit – so wie auch bei Begriffen wie Totalitarismus oder Faschismus – zu überprüfen und festzustellen, ob er seinen Zweck für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung noch erfüllt. Oder hat er nicht zu viele Inhalte, die er immer mit sich transportiert? Gibt er nicht eine bestimmte Sichtweise auf diese Mega-Gewaltereignisse vor, die man in vielen Ereignissen gar nicht wieder findet? Müssen wir dieses ganze Gepäck immer mitschleppen, oder können wir ihn nicht für den Augenblick aufgeben und eine andere Sichtweise versuchen?
Reinhart Kößler:
Raul Hilberg konnte, wenn ich mich recht entsinne, den Begriff Holocaust noch nicht verwenden. Soweit ich das beurteilen kann, ist der Begriff erst mit der berühmten Fernsehserie 1979 popularisiert worden.
“Genozid” weist nun eine sehr andere Begriffsgeschichte auf. Da geht es nämlich von vorneherein um ein Phänomen des frühen 20. Jahrhunderts. Es geht darum, nicht mit dem Judenmord, sondern mit dem Mord an den Armeniern begrifflich, historisch und juristisch umzugehen. Aber durchaus mit der Perspektive: “Es kann wieder passieren”, und durchaus immer auch juristisch.
Was wir als Wissenschaftler tun und schreiben, passiert nicht im luftleeren Raum, das wird außen wahrgenommen und verarbeitet. Wenn Sie auf deutsch im entsprechenden Organ – das ist jetzt keine Fiktion – eine Kritik am Genozidbegriff zusammen mit einer differenzierten Analyse des Hererokrieges veröffentlichen, dann müssen Sie damit rechnen, dass einige Zeit später in der “Allgemeinen Zeitung” in Windhuk steht: “Frau Kundrus behauptet, dass es sich nicht um einen Völkermord handelt.”
Birthe Kundrus:
Bedeutet das, dass ich nicht mehr schreiben darf, was ich will?
Reinhart Kößler:
Das liegt mir völlig fern. Doch was Sie schreiben, wird schnell wieder zurückkommuniziert, und Sie finden Teile Ihrer Aussagen auf kolonialapologetischen Websites, die in Deutschland betrieben werden, die dann wiederum von Schülern anklickt werden, die über den Kolonialismus ein Referat halten wollen. Ich möchte uns kein Denk- oder Schreibverbot auferlegen, wir sollten uns aber über die möglichen Folgen unserer begrifflichen Strategien im Klaren sein. Und wir sollten Vorkehrungen treffen, dass wir nicht in Ecken gestellt werden, in denen wir absolut nicht stehen.
Jürgen Zimmerer:
Wenn wir den Genozidbegriff abschaffen wollen, müsste man mir sagen: Was wollen wir dann als Konzept verwenden? Denn die Frage, die Reinhart Kößler gerade angesprochen hat, ist: Warum gibt es den Begriff Genozid?
Über den Begriff Holocaust, und wie er aufgeladen ist, wissen wir Bescheid. Aber der Begriff Genozid stammt ja daher, dass Raphael Lemkin der Meinung war, dass es eine Art von Gewalt gibt, die sich von Krieg und anderen Formen von Massengewalt unterscheidet, weil sie ethnische und andere Kollektividentitäten und ethnische Gruppen biologisiert und vernichten will. Weil es eben ein Kampf, ein Verbrechen gegen Kollektividentitäten darstellt. Man kann das bei Raphael Lemkin nachzeichnen, der mit Barbarei und Vandalismus argumentiert hat als ersten Versuch, und der dann Armenien und den Holocaust zusammen dachte und zu dem Schluss kam: Es gibt ein Verbrechen, das sich von Krieg und selbst von zivilen Opfern im Krieg unterscheidet. Weil es auch Kulturgüter zerstört, weil es Gruppen vernichtet, weil es – wenn möglich – auch die Erinnerung an die Gruppen zerstört und damit im Grunde – wie man heute sagt – die kulturelle Diversität attackiert.
Wenn wir uns darauf einigen, dass es diese Art Verbrechen gibt, dann brauchen wir einen Begriff dafür. Wenn wir – wie es Christian Gerlach versucht hat – von “extremely violent societies” sprechen, dann vermengen wir alle Arten von Verbrechen. Dann können wir diese spezifische Art von Verbrechen nicht mehr unterscheiden, die den Holocaust, den Judenmord so schrecklich macht, aber auch die Ermordung der Sinti und Roma und meiner Meinung nach auch den Hererokrieg.
Jörg Später:
Ich möchte noch einmal auf die unterschiedlichen Vernichtungslogiken von Antisemitismus und Rassismus hinweisen. Die Theorie der jüdischen Weltverschwörung hat ja vielleicht schon eine gewisse Vernichtungslogik inhärent, die Saul Friedländer schon mit dem Begriff Erlösungsantisemitismus beschreiben wollte.
Heiko Wegmann:
Noch einmal zur Frage des Tabubruches: Herr Zimmerer sagt, dass es die Erfahrung des Tabubruches gebraucht hätte, um im Nationalsozialismus Verbrechen noch größeren Ausmaßes zu ermöglichen. Frau Kundrus hat eingeworfen, man solle doch jenseits von Sonderwegsthesen Kolonialismus als Gewalterfahrung, als europäische Geschichte sehen. Wenn man nun direkte Verbindungslinien zwischen Windhuk und den späteren Kriegen bzw. dem Ostfeldzug ziehen will: Personelle Kontinuitäten kann man relativ wenige sehen, auf Militärkonzepte wurde sich wenig direkt bezogen. Auf der anderen Seite war der Kolonialismus vielleicht als gesamtgesellschaftliches Setting noch präsent. Doch es stellt sich die Frage: Was geschah sonst noch?
Als konkretes Beispiel würde ich hier den Abessinienfeldzug anführen. Im Oktober 1935 marschierte Italien mit einer gigantischen Kolonialarmee in Ostafrika ein, ein Kolonialkrieg bis dahin völlig unbekannter Ausmaße, auch was die Beteiligung italienischer Truppen angeht. Die ersten Giftgasbombardierungen größeren Maßstabes gegen die Zivilbevölkerung fanden statt, und diejenigen Historiker, die sich damit befassen, weisen darauf hin: Zum Polenfeldzug gibt es sehr starke Analogien.
Was nach Ende des Krieges (der Abessinienfeldzuges hat nur sieben Monate gedauert) bis zur Befreiung Abessiniens passierte, hat sogar noch viel mehr Opfer gefordert, weil bestimmte Gruppen ausgerottet wurden. Es war also wirklich das Ziel, bestimmte Gruppen, Bevölkerungsteile, Religionsgemeinschaften usw. wirklich auszuradieren. Diese fordern jetzt Aufmerksamkeit ein.
Die Nationalsozialisten haben sehr genau beobachtet, was da seinerzeit passiert ist. Zudem hat es eine Wende in den deutsch-italienischen Beziehungen hervorgerufen. Die Haltung Italiens gegenüber Deutschlands im Völkerbund hat sich verändert, nachdem Deutschland Italien im Abessinienfeldzug unbehelligt vorgehen ließ.
Meine Frage ist nun: Müsste man dann nicht den Genozid in Namibia wiederum in eine Reihe mit allen anderen möglichen Gewalterfahrungen stellen, oder eben einfach noch verschiedene Dinge kontextualisieren? Ist die Erfahrung des deutschen Kolonialismus, und speziell der Gewalterfahrung in Kolonialkriegen, ein Teil einer ganzen Reihe von Erfahrungen, die sich auf irgendeine Weise im Ostfeldzug niedergeschlagen haben?
Jürgen Zimmerer:
Glauben Sie, dass es eine Beziehung gibt zwischen dem Holocaust und dem Antisemitismus im frühen 19. Jahrhunderts in Deutschland? Oder sind das völlig voneinander abgetrennte Phänomene?
Heiko Wegmann:
Ich glaube schon, dass es da eine Beziehung gibt.
Jürgen Zimmerer:
Das heißt: Wir gestehen zu, dass es Verbindungslinien gibt, die nicht durch personelle Kontinuität geprägt sind. Warum wird dann aber mit zweierlei Maß gemessen? Wenn man eine koloniale Mentalitätsstruktur, eine koloniale Vorstellungswelt konstatiert, heißt es sofort: “Das muss aber personell nachgewiesen werden”.
Heiko Wegmann:
So habe ich das nicht gesagt. Es gibt verschiedene Kriterien für Kontinuität. Wenn es personelle Kontinuitäten gäbe, müsste man sie festhalten, und dann schaut man auf der nächsten Ebene, etwa der Literatur. Da würde ich Ihnen Recht geben, dass 1937-1938 der Zeitraum war, in dem es wohl die meisten Neuerscheinungen in der Kolonialliteratur gab, und nicht 1907-1908.
Jürgen Zimmerer:
Diese Gier nach personellen Kontinuitäten führt doch in der Praxis zu absurden Ergebnissen: Als Verbindungslinie zu proklamieren, dass der in Deutsch-Südwest aktive Heinrich Göring der Vater von Hermann Göring war, ist doch Quatsch. Das ist ja gar nicht der Bereich des Völkermords, als Heinrich Göring in Südwest war. Das gleiche gilt für Epp, der im Dritten Reich keine größere Rolle spielt und in die “koloniale Ecke” abgeschoben wird, die die Nazis nicht weiter interessierte.
Interessanter ist doch: Kann man Verbrechen der Nationalsozialisten eigentlich in eine Weltgeschichte des Kolonialismus einfügen? Wenn wir uns den Kolonialismus als große Matrix vorstellen, macht es Sinn, und wenn ja, in welchen Aspekten, den Nationalsozialismus einzuordnen? Das geht auch mit dem Abessinienkrieg.
Und deshalb ist es mehr oder minder egal, ob es eine personelle Kontinuität gibt. Es ist doch unerheblich, ob Hitlers oder Himmlers Vorstellung über die englische Kolonialherrschaft in Indien irgendetwas mit der Realität zu tun hatte oder nicht. Wichtig ist doch der Vorstellungsraum, den sie hatten. Und der speist sich aus dem deutschen Kolonialismus, aus dem europäischen Kolonialismus, ja sogar aus Karl May-Büchern, also aus rein fiktionalen Erzählungen. Doch daraus entsteht eine imperiale und koloniale Vorstellungswelt, die dann wirkungsmächtig wird.
Was bei den Wortmeldungen immer mitschwingt ist: “Sie und die Vertreter dieser Richtung wollen ja nur diesen einen Weg herausarbeiten!” Das halte ich für polemisch.
Birthe Kundrus:
Den Weg geben Sie ja vor. Wenn man seinem Buch den Titel “Von Windhuk nach Auschwitz” gibt, dann ist der Weg doch relativ linear, selbst wenn er mit einem Fragezeichen versehen ist. Aber ich bin froh, dass Sie das Argument, dass es einen kolonialen Resonanzboden und Transfers gibt, annehmen. Vielleicht können wir diesen unscharfen Begriff “Verbindungslinien” etwas konkretisieren.
Jürgen Zimmerer:
Jetzt kommen wir zum Kern der Auseinandersetzung. Worum es eigentlich geht, ist, dass die Diskussion unzulässig diffamierend geführt wird. Es ist beispielsweise nicht wahr, dass ich in meinen Arbeiten eine monokausale oder monolineare Verbindungslinie gezogen hätte. So steht selbst der Hinweis auf Karl May, auf die populäre Vorstellung vom Wilden Westen in meinen Aufsätzen.
Christian Stock:
Ihr Ansinnen, Genealogien oder Verbindungslinien aufzuzeigen, ist vollkommen legitim, das ist nicht der Punkt. Aber Sie lassen eine Leerstelle. Sie sprechen nicht über die Brüche, die Diskontinuitäten, die unterschiedlichen Ideologien und so weiter. Sie fragen sich auch nicht, warum Großbritannien als Erfinder des concentration camps im kolonialen Kontext eben später keine Vernichtungslager hervorgebracht hat. Italien, das mit dem Abessinienkrieg einen brutalen Kolonialkrieg führte, war später ein faschistisches Land, Spanien mit seiner großen kolonialen Erfahrung ebenfalls. Die westlichen Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien waren hingegen niemals faschistisch. Warum das so war, ist eine spannende Frage, die Ihre Genealogie teilweise auf den Kopf stellen würde. Aber das ist nicht Ihr Forschungsinteresse. Daran entzündet sich die Kritik.
Jürgen Zimmerer:
Ich habe ausführlich dargelegt, dass der Antisemitismus sich vom Kolonialrassismus darin unterscheidet, dass man die Juden als Bedrohung wahrnahm. Dass der Antisemitismus sich aus einem Unterlegenheitsgefühl entwickelte, was für den Kolonialrassismus nicht festzustellen ist. Was soll ich denn machen, wenn niemand die Texte genau liest?
Birthe Kundrus:
Im Bereich der tatsächlichen Wiedererlangung von Kolonien würde ich durchaus Kontinuitäten feststellen. Da findet sich Ritter von Epp, der dann immer wieder als “Depp” diffamiert worden ist. Diese Kontinuitäten sind aber auch immer mit Brüchen innerhalb der Ziele der Nationalsozialisten versehen. Der Wunsch, wieder an Kolonien zu gelangen, richtet sich nicht mehr auf die “alten” deutschen Kolonien, sondern auf Mittelafrika oder Madagaskar. Man glaubt, der Sieg über Frankreich liefere automatisch dessen Kolonien mit. Auch da mischt sich immer Altes mit Neuem.
Der Begriff des Transfers meint jedoch noch eine andere Idee: Transfer bedeutet, dass aus einem anderen Diskurs, aus einem anderen inhaltlichen Zusammenhang Momente übertragen werden. Aus der kolonialen Kriegführung wird in die Kriegführung gegen die Sowjetunion z.B. die Nichtunterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten übernommen. Oder die Ausrottung der Native Americans in den USA wird von den Nationalsozialisten als Legitimationsmuster aufgegriffen. Hitler sagte: “Wir müssen es nur machen wie die Amerikaner damals mit den Indianern.” Das ist auf der einen Seite eine Drohung gegenüber der jüdischen Bevölkerung, auf der anderen eine historische Legitimation, die er einzuholen versucht. Das ist der Transfer dabei.
Gleichzeitig hat ein Transfer aber immer ein Moment von Produktion. Es ist nicht nur eine Aneignung, nicht nur eine Eins-zu-eins-Kopie, sondern hier wird auch etwas seitens der Nationalsozialisten “produziert” und mit eigenen Ideen, mit eigenen Vorstellungen aufgeladen. Das Transferierte verändert sich im Prozess dieser Übersetzung. Das ist auch die eigentliche Herausforderung für weitere Forschung: Warum werden gerade bestimmte Momente aus der jahrhunderte langen Kolonialgeschichte ausgewählt und von nationalsozialistischen Akteuren für bestimmte Zwecke eingesetzt? Das wäre eine wirklich innovative Nutzung dieses “colonial archives”.
Laetitia Lenel:
Herr Zimmerer, Sie wollen eine Verbindung aufzeigen, aber keinesfalls eine lineare Bestimmtheit der Geschichte. Und auch Sie, Frau Kundrus, wollen von Transfers sprechen, also von existierenden Verbindungen. Worüber diskutieren Sie dann? Man kann doch mit Sprache exakt ausdrücken, was man meint. Was ist denn der Kern ihrer Auseinandersetzung? Geht es wirklich nur um Begriffe?
Birthe Kundrus:
Es gibt sicherlich einen großen Streitpunkt zwischen uns, der lautet: Wie sinnvoll ist der Genozidbegriff? Sollten wir uns davon lösen? Der zweite Punkt ist die Frage nach der Bedeutung des deutschen Kolonialismus für die deutsche Geschichte. Das ist gestern für mich etwas ungelöst geblieben, denn wenn wir sagen, dass Kolonialismus eigentlich ein europäisches Phänomen ist, dann lösen wir uns von dieser sehr stark nationalgeschichtlichen Betonung.
Das sind die beiden Punkte, an denen ich sagen würde: Wir müssen gar nicht so defensiv argumentieren und den Kolonialismus über einen Vergleich mit Auschwitz oder dem Dritten Reich aufwerten. Lassen Sie uns doch offensiv sein und sagen: Es hat den Kolonialismus gegeben, und wir müssen akzeptieren, dass er bis heute Folgen hat. Diese liegen vielleicht nicht auf den von Ihnen vermuteten Gebieten, aber wir müssen die Bedeutung des Kolonialismus nicht nur durch eine Verbindung mit dem NS hervorheben. Gerade, weil er bisher ein marginalisiertes Phänomen der deutschen Geschichte ist, wie Herr Zimmerer das eingangs richtig gesagt hat.
Laetitia Lenel:
Herr Zimmerer, ich kann Ihnen nicht ganz folgen, wenn Sie betonen, dass die Verbindungslinien nicht übersehen werden dürfen, sich aber andererseits ständig falsch verstanden fühlen und sagen: Ich will doch gar keine Verbindungslinie aufzeigen. Was ist denn der Unterschied?
Jürgen Zimmerer
Eine Debatte ist ein Prozess. Wenn sie offen und intellektuell redlich geführt wird, dann verändern sich in diesem Prozess Positionen. Wenn ich Frau Kundrus’ Argumentation höre bezüglich Transfer als intentionaler Prozess: Eine so direkte intentionale Übernahme des Kolonialismus hätte ich niemals zu behaupten gewagt. Sie postulieren mit dem Transfer eigentlich eine viel “bewusstere” Übernahme als das, was ich skizziert habe. Das zeigt, wie sich diese Debatten verändern. Es geht mir darum, die Verbindungslinien aufzeigen, ohne es kausal, monokausal oder linear zurückzuführen auf den deutschen oder europäischen Kolonialismus.
Der Kern der Debatte war am Ausgangspunkt, dass jemand für eine Neubewertung des Nationalsozialismus eintritt. Und das wurde aus verschiedenen wissenschaftlichen und politischen Gründen abgelehnt. Mein Buch “Von Windhuk nach Auschwitz” ist noch nicht einmal erschienen und wird schon niedergemacht. Als die ersten Attacken kamen, gab es den Titel noch gar nicht. Es ist also nicht wahr, dass alles ein Missverständnis ist, weil ich diesen Buchtitel gewählt habe.
Wenn ich mittlerweile von Ulrich Herbert höre: “Der Krieg im Osten war ein Kolonialkrieg”: Vor sieben Jahren hier in Freiburg habe ich das noch nicht so gehört. Auch da gibt es eine Entwicklung in der Debatte. Das ist ja auch gut so.
David Bexte:
Wäre es nicht interessant, sich beim Vergleich des Kolonialismus mit dem Nationalsozialismus noch stärker auf die 1920er Jahre zu konzentrieren? Zu untersuchen, wie sich Konzepte in der Zwischenkriegszeit weiterentwickelt haben, die bereits im Kolonialismus Anklang fanden? Und daraus vielleicht erklären zu können, warum Kolonialismus sich auch im Nationalsozialismus wieder findet? Auch diese Frage bleibt: Wenn Kolonialismus als europäisches Phänomen zu sehen ist, gibt es dann noch einen spezifischen deutschen Kolonialismus?
Birthe Kundrus:
Hier würde ich wieder sagen: Die Forschung ist, was koloniale Kriegführung angeht, eher in einem internationalen Rahmen zu sehen. Es ist herauszufinden, was die Kolonialmächte aus ihren Kolonialkriegen in den Ersten Weltkrieg hinein transportiert haben, und was dann in der Zwischenkriegszeit passiert ist. Da spielt Deutschland keine so große Rolle. Beispielsweise wird gerade diskutiert, inwiefern der Bombenkrieg, der 1911 das erste Mal in Nordafrika gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt wurde, als Mittel im Ersten Weltkrieg auf den europäischen Schauplatz zurückkehrte. Durch die Briten wurde er dann wieder im Irak eingesetzt, und so weiter. Diese Wanderbewegungen werden jetzt nachvollzogen.
Das Militär als ausübende Institution von solchen Gewaltaktionen in Kriegen rückt immer mehr in den Mittelpunkt der transnationalen Geschichtsforschung, auch in institutionsgeschichtlicher Perspektive. Wie gehen militärische Einrichtungen eigentlich mit ihren Gewalterfahrungen um? Wie sehr stützen sie sich nicht unbedingt auf direkt gemachte Erfahrungen, sondern auf “Auswertungen” dieser Erfahrungen in anderen Ländern? Es gab ein Reservoir internationalen Wissens, das die Deutschen für sich nutzbar machen konnten.
Jürgen Zimmerer:
Sie meinten das wohl nicht so, aber Sie sagten: Der Kolonialismus endet, und dann kommt die Weimarer Republik. Der Kolonialismus endet jedoch nicht, er dauert bis heute an. Nur als Hinweis darauf, dass wir automatisch in nationalgeschichtlichen Schablonen denken. Selbst der deutsche Kolonialismus läuft nach 1918 weiter, der internationale auf jeden Fall. Das Problem ist unsere Vorstellung von Kolonialismus. Kolonialverbrechen, die in den Kolonien begangen wurden, sind natürlich auch Verbrechen einer deutschen, französischen, britischen Bürokratie, Armee, etc. Austauschprozesse, da würde ich völlig übereinstimmen, sind dabei vorhanden. Denn es ist ja der Generalstab in Berlin oder es ist eine preußische Militärtradition, die die Franktireurs bekämpft im Krieg von 1870/71, und die später die Herero bekämpft.
Ein gutes Beispiel für den Hererokrieg ist C.E. Calwells Buch “Small Wars”, das Standardhandbuch der britischen Armee für Guerillabekämpfung:In der Auflage von 1906 sind bereits zwei Absätze über den Hererokrieg zu finden, in denen der Autor von Trotha ein totales Versagen attestiert. Die Briten schickten damals sofort einen Militärattache in den Kommandostab von Trothas, der beobachten sollte: Wie gehen die Deutschen mit der Situation um? Sie hatten ja ein Problem, das auch in britischen Kolonien auftauchen kann. Wir haben es hier also mit Lernprozessen, Austauschprozessen – und wenn Sie so wollen Transferprozessen – zu tun.
Eine globale Gewaltgeschichte muss kontinentübergreifend argumentieren. Sie kann nicht Ereignisse ignorieren, weil sie nicht in Europa stattfinden. Es müssen also – um die extremste Bandbreite aufzuzeigen – Phänomene wie die “frontier violence” von Siedlermilizen in Australien oder Colorado und der Ostkrieg in einem Begriff zusammengebracht werden. Und erst wenn sich herausstellt, dass das überhaupt nicht machbar ist – und ich glaube, dass es machbar ist -, dann kann man weiterdenken. Zunächst muss man es aber global begreifen, und wir begreifen es immer noch viel zu sehr national.
Das kann man schon an der Frage sehen, wann eigentlich der Zweite Weltkrieg beginnt. Wir denken meist 1939. Aber aus chinesischer Sicht ist es 1937. Die Zeit, in der Europa und Nordamerika die weltweiten Curricula bestimmten, dürfte sich definitiv dem Ende zuneigen. Die Globalgeschichte und die globalisierte Geschichte werden kommen, ob wir das akzeptieren oder nicht.
Darum geht es eigentlich im Kern, und da ist glaube ich auch das fruchtbare und in die Zukunft weisende Element dieser Debatten. Es geht eben nicht um den deutschen Kolonialismus. Ich glaube – und da unterscheiden Frau Kundrus und ich uns – dass der Hererokrieg kein Kolonialkrieg war wie jeder andere. Darin liegt auch die Bedeutung des Genozidbegriffs. Von mir aus benutzen Sie ein anderes Wort, aber es gibt nicht viele Kolonialkriege, in denen über vier Jahre mit Rückendeckung der höchsten Militärs zwei ethnische Gruppen komplett vernichtet werden sollten. Das ist etwas Besonderes. Das steht zwar in einer Tradition der europäischen Kolonialkriege vorher, das strahlt aus in die Kolonialkriege nachher, es strahlt auch aus in die europäischen Kriege. Aber es ist schon etwas Spezifisches. Auch wenn man sich den Kolonialismus in Deutsch-Südwest allgemein anschaut, finden sich dort Spezifika, die es in britischen, französischen oder portugiesischen Kolonien nicht gab.
Transkription: Fabian Holzheid. Redaktionelle Bearbeitung: Fabian Holzheid/ Christian Stock