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Mar
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Moishe Postone Ein Nachruf von Stephan Grigat März 2018

# 2018/13 dschungel
https://jungle.world/artikel/2018/13/revolutionaer-der-antisemitismuskritik
Ein Nachruf auf den Theoretiker Moishe Postone

Moishe Postone djungle world
Revolutionär der Antisemitismuskritik
Von Stephan Grigat
Er war einer der radikalsten und höflichsten Theoretiker der Linken. Zum Tod von Moishe Postone, dem diese Zeitung viel zu verdanken hat. Ohne Moishe Postone, der am 19. März im Alter von 75 Jahren in Chicago gestorben ist, gäbe es diese Zeitung vermutlich nicht – zu mindest nicht mit der Ausrichtung, wie  wir sieheute kennen. Die Spaltung in der Redaktionder Jungen Welt, aus der die Jungle World 1997 hervorgegangen ist, war auch ein Resultat eines Prozesses, der bereits vor der Wiedervereinigung begonnen hat: Ende der achtziger Jahre kursierte Postones Text
»Nationalsozialismus und Antisemitismus« als Geheimtipp in jenen Zirkeln, die gerade
versuchten, ihren eigenen Marxismus mittels einer Relektüre von Marx’ »Kritik der
politischen Ökonomie« sowie mit der Auseinandersetzung mit der klassischen Kritischen
Theorie und einer intensiveren Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus neu zu
justieren. Der ursprünglich für eine US-amerikanische Publikation verfasste Beitrag löste
nach seinen deutschen Erstveröffentlichungen Ende der siebziger und Anfang der
achtziger Jahre zunächst keine großen Diskussionen aus. 1991 druckte die Freiburger
Initiative Sozialistisches Forum um den Publizisten Joachim Bruhn ihn in ihrer
ZeitschriftKritik & Krise erneut ab, 2005 erschien er in Postones Aufsatzsammlung  »Deutschland,die Linke und der Holocaust« im Freiburger Verlag Ça ira, und heute gehört er zurPflichtlektüre eines jeden an materialistischer Gesellschaftskritik Interessierten. Die Herausgeber von »Deutschland, die Linke und der Holocaust« konstatierten: »PostonesTexte beeinflussten bei einem relevanten Teil der radikalen Linken die Aneignung einerkritischen Theorie der Gesellschaft, die den selbstkritischen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit zum Ausgangspunkt nimmt.« Damit beförderten sie auch die Entstehung dieser Zeitung, in der alle paar Jahre Interviews mit Postone erschienen sind und in der er mehrere Dossiers publiziert hat.
Joachim Bruhn hat Postones Thesen zum Nationalsozialismus vor dem Hintergrund der
Jahrzehnte vorherrschenden marxistisch-leninistischen Verharmlosung des
Antisemitismus zu Recht als »Revolutionierung der materialistischen Betrachtung des
Antisemitismus« bezeichnet. Seine von den Grundkategorien in Marx’ »Kapital«
ausgehende Dechiffrierung des modernen Antisemitismus als Hass auf das Abstrakte,
seine deutliche Unterscheidung von Antisemitismus und Rassismus und seine Analyse der nationalsozialistischen Vernichtungspraxis als Bruch mit der kapitalistischen
Verwertungslogik und Herrschaftsrationalität haben ebenso Maßstäbe gesetzt wie seine
Kritik an der deutschen Linken und einem sich progressiv wähnenden fetischistischen
Antikapitalismus. Postone bewahrte sich eine sympathische Skepsis gegenüber all jenen, die mit Bezug auf ihn und bewaffnet mit mittlerweile weitgehend zu Worthülsen verkommenen Begriffen wie »struktureller Antisemitismus« und »verkürzte
Kapitalismuskritik« gegen jeglichen Sozialprotest mobilisierten. In der Rezeption von Postones Antisemitismus-Thesen machte sich mitunter eine Tendenzzur theoretisierend-
rationalisierenden Abwehr von Geschichte bemerkbar, die ihm selbst allerdings kaum vorzuwerfen ist. Für Postone bildeten die jüdische Erfahrung von Gewalt und Vernichtung und das Entsetzen angesichts des Antisemitismus in der deutschen
Linken den Ausgangspunkt der kritischen Anstrengung. Sein Vater, ein Rabbiner aus
Litauen, konnte im August 1939, nur eine Woche vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, nach Kanada ausreisen. Dort lernte er seine in der Sowjetunion in der Zeit des stalinistischenTerrors aufgewachsene Frau kennen und 1942 wurde Moishe Postone geboren. Die gesamte Familie des Vaters und große Teile der mütterlichen Verwandtschaft wurden inder Shoah ermordet.
Postone besuchte die jüdische Grundschule in Edmonton im westlichen Kanada,
anschließend die jüdische High School zunächst in Los Angeles und dann in Chicago. An
der University of Chicago studierte er zunächst Biochemie, doch schon bald Intellectual
History, unter anderem bei Hannah Arendt, die laut Postone damals die einzige Lehrende an der Universität war, die sich in ihren Seminaren mit Marx und Hegel beschäftigte. Postone lernte in München Deutsch, bevor er Anfang der Siebziger an die Universität in Frankfurt kam, wo er bei Iring Fetscher promovierte und sich intensiv an den Diskussionen der Neuen Linken beteiligte. In New York hat er in den Siebzigern am Brooklyn Collegeund am Richmond College unterrichtet. Seit 1987 lehrte er European Intellectual Historyund kritische Sozialtheorie an der University of Chicago, zuletzt als Professor amDepartment of History. Bereits 1985 hatte Postone anlässlich des Besuchs von Helmut Kohl und Ronald Reagan auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg einen offenen Brief an die westdeutsche Linke geschrieben, dessen Inhalt von großen Teilen jener Linken bis heute ignoriert wird. Den proamerikanischen Atlantizismus der damaligen deutschen Konservativen charakterisierte Postone als eine bequeme Form, die BRD als normale Demokratie erscheinen zu lassen, ohne sich der nationalsozialistischen Vergangenheit zu stellen. Den Antiimperialismus der Linken dechiffrierte er angesichts dessen, dass »Hunderttausende bereit sind, gegen den amerikanischen Imperialismus zu demonstrieren, und nur ein paar Hundert gegen die Rehabilitation der Nazi Vergangenheit«, als plumpenAntiamerikanismus und alternative Form der Schuldabwehr. Der Brief wurde Anfang der neunziger Jahre auf Initiative des Publizisten Matthias Küntzel in der Zeitschrift Bahamas wiederveröffentlicht – und er ist bis heute eine der lesenswertesten Kritiken der postnazistischen deutschen Gesellschaft und ihrer Linken. Postones Buch zu Marx, »Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft«, erschien 1993, basierend auf seiner Frankfurter Dissertation von 1983, bei Cambridge University Pressund wurde mit dem renommierten Preis der American Sociological Association ausgezeichnet. Als es zehn Jahren später bei Ça ira auf Deutsch erschien, gab es in der Jungle World nicht nur eine ausführliche Besprechung, sondern eine ganze »Disko«-Reihe zu Postones »neuer Interpretation der kritischen Theorie von Marx«. Seine Studie ist ein Einspruch gegen jenen wert-, geld- und preisidealistischen Mathematikersozialismus, der stets nur Verteilungsprobleme sieht und in der Regel meint,sie durch alternative Steuerpolitik lösen zu können, aber nie die Wertförmigkeit derArbeitsprodukte thematisiert. Postone wendet sich gleichermaßen gegen den Traditionsmarxismus mit seiner überhistorischen Vorstellung vom Proletariat als Subjekt der allgemeinen Emanzipation und gegen poststrukturalistische Theorien mit ihrer schlichten Leugnung einer durch den Wert vermittelten Totalität. An die Stelle dertraditionsmarxistischen Vorstellung eines Grundwiderspruchs von Kapital und Arbeit setzt er ganz im Sinne der Kritischen Theorie die Diskrepanz zwischen Bestehendem undMöglichem. Den entscheidenden Antagonismus des krisenhaften Kapitalismus ortet er,inspiriert von einem zentralen Gedanken in Marx’ »Grundrissen« und ähnlich wie die Wertkritiker um Robert Kurz, mit denen er zeitweise in regem Kontakt stand, in einemwachsenden Widerspruch zwischen Wert und stofflichem Reichtum.Gegen Ende seines Lebens hielt Postone nochmals fest, dass das meiste, was unter demTitel »Marxismus« fungiert, viel eher ein »Engelsismus« sei, und Engels in vielen Punkten »wirklich nicht verstanden hat, worum es bei Marx geht«. Im Gespräch mit dem ORF Korrespondenten Raimund Löw erklärte Postone dem Wiener Humanities Festival dem erstaunt dreinblickenden ehemaligen Trotzkisten im November 2017, dass »Marx keine Kritik der Gesellschaft vom ›Standpunkt der Arbeit‹, sondern eine Kritik der Arbeit« formuliert hat: »Es ging ihm um die Abschaffung der proletarischen Arbeit, nicht um ihre Verwirklichung oder ihre Glorifizierung. «Die »neue Welle des Antisemitismus in der arabischen Welt« zur Zeit der Zweiten Intifada und den antisemitischen Islamismus verstand Postone in Fortführung seiner Überlegungen zum Nationalsozialismus als »fetischisierte, zutiefst reaktionäre Form von Antikapitalismus«.
Postone bewahrte sich eine sympathische Skepsis gegenüber all jenen, die mit Bezug auf
ihn und bewaffnet mit mittlerweile weitgehend zu Worthülsen verkommenen Begriffen
wie »struktureller Antisemitismus« und »verkürzte Kapitalismuskritik« gegen jeglichen
Sozialprotest mobilisierten. Bei allen Einwänden gegen die Bewegungslinken betonte
Postone stets die Notwendigkeit der Kritik an der Verteilung des gesellschaftlichen
Reichtums. Seine scharfe Kritik eines fetischistischen Antikapitalismus schlug nie um in
Verachtung für die materiellen Bedürfnisse der abhängigen und der abgehängten Massen:»Man kann nicht verlangen, dass, wer protestiert, alle drei Bände des ›Kapitals‹ gelesen haben muss.« Die »neue Welle des Antisemitismus in der arabischen Welt« zur Zeit der Zweiten Intifada und den antisemitischen Islamismus verstand Postone in Fortführung seiner Überlegungen zum Nationalsozialismus als »fetischisierte, zutiefst reaktionäre Form von Antikapitalismus«. Und es wäre zu hoffen, dass Postones Antisemitismuskritik in Zukunft dazu dienen kann, die dringend notwendige Solidarität mit Israel wieder ein wenig aus jener theorielosen Selbstbezüglichkeit herauszuführen, in der sich einige in den letzten Jahren eingerichtet haben, und sie wieder stärker auf eine ideologiekritische Grundlage zustellen, die den Zionismus als jene prekäre Notwehrmaßnahme gegen die antisemitische Raserei versteht, die er in allererster Linie ist. Postones eigenes Verhältnis zu den diversen Ausprägungen des Zionismus blieb
ambivalent. Selbst noch wenn es um die dezidiert antisemitischen Spielarten des
Antizionismus ging, wie beispielsweise bei der Muslimbruderschaft, konnte er sich nicht
ganz von korrespondenztheoretischen Erklärungsmodellen lösen, die nahezu
zwangsläufig ein Moment einer entschuldigenden Rationalisierung implizieren. Seine
Kritik des manichäischen Antiimperialismus vieler Linker ging bei Postone mitunter mit
Rettungsversuchen für einen historischen, universalistisch argumentierendenAntizionismus einher. Doch auch zur kommunistischen Tradition des Antizionismus aus  der Zeit vor dem Nationalsozialismus, in der seine eigenen antizionistischen Positionen der siebziger Jahre stehen, äußerte er sich später kritisch. 2010 erklärte er zwar, diese »Spielart des Antizionismus« sei »nicht notwendigerweise antisemitisch«, kritisierte aber, dass sie von einem »abstrakten Universalismus« geprägt sei, der die spezifische jüdische Erfahrung von Verfolgung und Vernichtung zum Verschwinden bringt.In den letzten Jahren äußerte Postone sich immer wieder auch zu Fragen der internationalen Politik: Die Syrien- und Irak-Politik Barack Obamas hielt er für einen »Fehler«; die vom US-Präsidenten »erhoffte große Veränderung, insbesondere mit dem Iran-Deal« sei, »Ausdruck von Naivität«. Postone kritisierte das Ausblenden der
antisemitischen Motive islamistischer Angriffe in Europa, wandte sich entschieden gegen
das Gerede von der »Islamophobie« als neuem Antisemitismus und echauffierte sich
über Judith Butler: »Einige renommierte Akademiker in den Vereinigten Staaten haben
kein Problem damit, die Hizbollah und die Hamas zur globalen Linken zu zählen. Das ist
wahnsinnig.« Doch wenn es nicht gerade um ausgewiesene Nazis, Islamisten oder ihre Unterstützer in der westlichen Linken ging, wollte Postone mit seiner Kritik einen Gegenstand treffen, nicht seinen Gegner vernichten. Auf Einwände und Angriffe, die es reichlich gab, reagierte er in aller Regel nicht nur mit Argumenten, sondern auch mit einer insistierenden Freundlichkeit, die Schule machen sollte: Postone war einer der höflichsten Gesellschaftskritiker des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Zeitlebens blieb er ein empathischer Lehrer und ein zu lebendiger Erfahrung fähiger eingreifender Intellektueller, der nie zu einem interesselosen akademischen Sachbearbeiter mutierte.
In den letzten Jahren verbrachte Postone wieder viel Zeit in Deutschland und Österreich.
In Berlin forschte er an der Amerikanischen Akademie, in Wien war er Fellow am Institut für die Wissenschaft vom Menschen, und er hatte noch einiges vor: Er wollte eine Leseanleitung zum »Kapital« veröffentlichen, und im Anschluss an »Zeit, Arbeit und
gesellschaftliche Herrschaft« wollte er die Kritische Theorie »von ihrem Kapitalbegriff und ihrer Kapitalismuskritik aus darstellen« und sich dabei sehr viel stärker als bisher aufAdorno beziehen, zu dem er 1999 erklärt hatte, er habe ihn in »Time, Labor and Social Domination« »elegant umgangen«. Kürzlich hatte er zugesagt, auf der internationalen Konferenz mit dem reichlich überambitionierten Titel »An End to Antisemitism« Ende Februar an der Wiener Universität seine Überlegungen zum Zusammenhang von kapitalistischer Gesellschaft und Antisemitismus einem alles andere als linksradikalen Publikum zu präsentieren. Aufgrund seiner schweren Erkrankung konnte er diese Gelegenheit nicht mehr wahrnehmen.
Die Trauerfeier für Moishe Postone fand letzte Woche in der Congregation Rodfei Zedek in Chicago statt. Am 20. März wurde er auf dem Friedhof Oak Woods beigesetzt.
© Jungle World Verlags GmbH

06
Mar
10

Die OSO,Niedergang eines Reformpaedagogischen Konzepts

http://misalla.wordpress.com/
>Bis zu 100 Missbrauchsfälle

Skandal an der Odenwaldschule
Die Odenwaldschule, pädagogisches Vorzeige-Projekt, wird von ihrer Vergangenheit eingeholt. Die massiven Vorwürfe von Ex-Schülern wurden lange heruntergespielt.
Von Jörg Schindler
Am 17. April 2010 feiert die Odenwaldschule ihr 100-jähriges Bestehen. Im Kurfürstensaal des Kurmainzer Amtshofs zu Heppenheim wird eine Ausstellung über das Vorzeigeprojekt der Unesco eröffnet. Später dann, im Juli, beginnt die eigentliche Festwoche, die Kammerphilharmonie Bremen spielt auf, viele prominente Altschüler geben sich im Südhessischen die Ehre, darunter die Moderatorin Amelie Fried. Es könnte eine rauschende Party werden. Aber es wird wohl nicht so kommen. Denn in diesen Tagen ist die Odenwaldschule (OSO) endgültig von ihrer eigenen Vergangenheit eingeholt worden.

Anfang dieser Woche erreichte sämtliche Eltern von OSO-Schülern ein alarmierender Brief von Schulleiterin Margarita Kaufmann. Es sei gut möglich, warnt Kaufmann, dass die OSO in Kürze deutschlandweit im Rampenlicht stehen werde – womöglich werde es ihr dabei ähnlich ergehen wie zuletzt dem Berliner Canisius-Kolleg.

In einer beigefügten Stellungnahme der Schulleitung wurde Kaufmann noch deutlicher: In den 70er und 80er Jahren seien etliche Minderjährige “Opfer sexueller Übergriffe nicht nur durch den damaligen Leiter der Odenwaldschule geworden”. Das “Ausmaß der Verbrechen”, so die Rektorin, habe ihre Schule “massiv erschüttert und irritiert”.
Die Odenwaldschule
Am 14. April 1910 wurde die Odenwaldschule in Ober-Hambach (OSO), einem heutigen Ortsteil von Heppenheim in Südhessen, gegründet. Ausgehend von den Gedanken der Jugendbewegung setzten die Gründer Paul und Edith Geheeb auf eine ganzheitliche Erziehung “vom Kinde aus”. Das heißt, anstelle von Zucht und Drill sollten Lehrer auf die spezifischen Bedürfnisse ihrer Schutzbefohlenen eingehen und die freie Entfaltung fördern.

Zum Leitspruch wurde Geheebs Gedanke “Werde, der du bist”. Prinzipien der antiautoritären Erziehung wurden hier im Grunde schon lange vor der eigentlichen Erfindung des Begriffs praktiziert.

1963 wurde die OSO zur Unesco-Projektschule. Sie gilt heute als Vorzeige-Institution der Reformpädagogik. Die zurzeit 225 Schüler – davon 200 Internatsschüler und 25 Externe – leben in sogenannten Familien in naturnaher Umgebung. Die Klassenstärke liegt bei 16 Mädchen und Jungen. Der Klassenlehrer fungiert offiziell als “Familienoberhaupt” und lebt Tür an Tür mit seinen Schülern. Ein Internatsplatz kostet zurzeit 2220 Euro im Monat.

Prominente Ex-Schüler sind der Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit und die Journalistin und Moderatorin Amelie Fried. Auch der Schriftsteller Klaus Mann (1906-1949), der Ex-DDR-Kulturminister Klaus Gysi (1912-1999) und die Unternehmerin Beate Uhse (1919-2001) besuchten die Odenwaldschule.

Gegen Gerold Becker, den ehemaligen Leiter der OSO, ermittelte die Staatsanwaltschaft Darmstadt 1999 wegen des Verdachts auf sexuellen Missbrauch von Minderjährigen. Das Verfahren wurde wegen Verjährung eingestellt.

Mit einem Internet-Blog wollen die von Gerold Becker und weiteren ehemaligen Lehrern missbrauchen Schüler mit weiteren Betroffenen ins Gespräch kommen. (ind )
Kaufmann hat in den vergangenen Monaten zahlreiche Gespräche mit Altschülern geführt, deren Aussagen sie für “absolut glaubwürdig” hält und in denen ihr nach eigenen Worten “schwindelig wurde”. Die ehemaligen Schüler, fast alles Männer, berichteten davon, wie sie als 13-, 14-Jährige von ihren Lehrern regelmäßig durch das Streicheln der Genitalien geweckt, wie sie als “sexuelle Dienstleister” für ganze Wochenenden eingeteilt, wie sie zu Oralverkehr gezwungen wurden. Einzelne Pädagogen hätten gar ihren Gästen Schüler zum sexuellen Missbrauch überlassen.

Mindestens vier ehemalige OSO-Lehrer sind bislang von Altschülern namentlich belastet worden, mindestens 50 Schüler sollen von ihnen missbraucht worden sein. Kaufmann, die die Vorgänge zwischen 1970 und 1985 für “eine Tatsache” hält, reicht das nicht: Sie hat einen Brief an alle Altschüler verfasst, die mit ihren Erinnerungen zur Aufklärung beitragen sollen. “Die Schule will das jetzt wissen”, sagt sie. Man könnte fragen: Wieso erst jetzt?

Dass die OSO ihren Schülern jahrelang nicht nur “ein zweites Zuhause” bot, wie sie selbst wirbt, ist seit zehn Jahren für jeden, der es wissen wollte, offenkundig. Am 17. November 1999 berichtete die Frankfurter Rundschau unter der Überschrift “Der Lack ist ab” über den bis heute hoch angesehenen Pädagogen, Theologen und ehemaligen OSO-Leiter Gerold Becker. Weil sie es nicht länger ertragen konnten, dass Becker weiterhin als gefragter Handlungsreisender von Podium zu Podium eilt, wandten sich seinerzeit insgesamt fünf Altschüler an die Öffentlichkeit und berichteten über ihre Erfahrungen mit dem pädophilen Pädagogen.

Rund 400 Mal, schilderte etwa der heute 40-jährige Jürgen Dehmers (Name geändert), sei er von Becker sexuell missbraucht worden. Damit von Dehmers schon 1997 schriftlich konfrontiert, antwortete Becker ausweichend, es gebe einiges, “für das ich mich schäme oder schuldig fühle”. Die konkreten Vorwürfe ließ er unkommentiert, dafür sei er zu “müde und unkonzentriert”. Dehmers wandte sich daraufhin hilfesuchend an die Schule. Deren Trägerverein bat Becker zum Gespräch, in dem dieser den Vorwürfen nicht widersprach und sämtliche Funktionen niederlegte, die er in der OSO noch hatte. Auch den Vorsitz in der Vereinigung der Deutschen Landerziehungsheime gab er ab.An der OSO aber gab es “keine konsequente Aufarbeitung des Skandals”, räumt Schulleiterin Kaufmann ein, die erst seit 2007 im Amt ist. Nie wurde geklärt, ob noch andere Lehrer zu Tätern wurden, nie geprüft, wie viele Schüler missbraucht wurden, nie gefragt, wie ein derart massiver Missbrauch jahrelang unentdeckt bleiben konnte. Der Ex-Lehrer Salman Ansari, der als einer der wenigen offen mit der FR geredet hatte, wurde vom damaligen Vorstandsmitglied und langjährigen SPD-Bundestagsabgeordneten Peter Conradi rüde abgekanzelt: “Nur dumme Lehrer sprechen mit Journalisten.”

Die FR selbst wurde aus der OSO-Gemeinde massiv beschimpft, sie wolle ein verdientes libertäres Pädagogik-Projekt zerstören. Eine vom hessischen Kultusministerium nach der Veröffentlichung angekündigte Überprüfung der Schule fand nie statt. Stattdessen verließ sich die abgeschieden im Odenwald gelegene Vorzeige-Anstalt der Reformpädagogik auf ein paar Seminare und Supervisionen und schuf einen “Ausschuss zum Schutz vor sexuellem Missbrauch”, besetzt mit internen Lehrkräften. Das war’s.

Im Lauf der Jahre wurden Beckers Widerwärtigkeiten an der OSO dann zu “lange zurückliegenden angeblichen Übergriffen”, wurden die fünf Alt-Schüler konsequent zu zweien abgerundet. Ansonsten galt das Wort von Beckers Nachfolger Wolfgang Harder, dass “alle Menschen auch von Herrn Beckers Wirken profitiert hätten”. Und Gerold Becker tauchte nach zweijähriger Schamfrist ja auch wieder ungeniert auf: Bis ihn eine schwere Erkrankung stoppte, gab er Bücher heraus, hielt Vorträge, war im Vorstand der “Internationalen Akademie” der Freien Universität Berlin. 2002 durfte er für den Friedrich Verlag ein Schüler-Heft zum Thema “Körper” herausgeben. In seinem Vorwort dazu heißt es: “Schule hat die Körper von Kindern und Jugendlichen lange missachtet.” Niemand nahm daran Anstoß – außer Beckers langjährigen Opfern.

Als sich die OSO im vergangenen Jahr anschickte, ihr Jahrhundert-Jubiläum gebührend vorzubereiten, hakten vier Altschüler noch einmal in Ober-Hambach nach. Und anders als vor zwölf Jahren stießen sie diesmal auf offenere Ohren. Margarita Kaufmann, die neue Schulleiterin, reagierte zunächst überrascht. Vom Vorstand, sagt sie heute, habe sie bei Amtsantritt stets gehört, die lästige Becker-Episode sei “beendet und abgeschlossen”. Nun aber sah sie sich den erbosten Altschülern gegenüber, die seit Jahren vergeblich auf ein Wort der Entschuldigung warteten und in der Zwischenzeit neue – unglaubliche – Details zu den Vorgängen an der Odenwaldschule gesammelt hatten. Kaufmann beschloss, ihnen zuzuhören.

Im Frühjahr 2009 fand in Frankfurt am Main das erste von drei Treffen zwischen den Altschülern und Vertretern der OSO statt. Was dort vor laufender Kamera besprochen wurde, ist dazu angetan, das Flaggschiff der Reformpädagogik nachhaltig zu beschädigen. Der Diplom-Psychologe Walter Schwertl, der die Gespräche moderierte, hält in seinem sechsseitigen, der FR vorliegenden Bericht massive sexuelle Verbrechen an der OSO über Jahrzehnte hinweg für erwiesen. Mit zum Teil verheerenden Konsequenzen für die Opfer: “Schwerer Alkoholmissbrauch über Jahre, massiver dauerhafter Konsum illegaler Drogen und kaum fassbares seelisches Leiden waren die Folgen.”Dabei berichteten mehr als ein Dutzend Alt-Schüler nicht nur von Übergriffen durch Gerold Becker, “die auch den Straftatbestand der Vergewaltigung erfüllen”. Auch drei andere Ex-Lehrer (deren Namen der FR bekannt sind) werden von ihnen als Sexualtäter bezichtigt. Sie und weitere sechs Lehrkräfte haben nach Aussagen der Schüler außerdem Schutzbefohlene gemobbt, geschlagen, mit Drogen und Alkohol versorgt oder gar beim gemeinschaftlichen Missbrauch eines Mädchens nicht eingegriffen. Besonders heikel: Drei Altschüler werfen Hartmut von Hentig, dem Nestor der deutschen Reformpädagogik, vor, den Missbrauch gedeckt zu haben. In einem Brief vom 19. Februar 2010 an alle OSO-Gremien schreiben sie: “Hartmut von Hentig ist nicht nur der langjährige Lebensgefährte von Gerold Becker, er war auch durch seine häufigen Besuche in der OSO mit den Umgangsformen in Beckers ,Familie‘ vertraut.” Hentig selbst sagte der FR: “Das ist grotesk.” Becker habe sich “dadurch ausgezeichnet, dass er immer sehr offen Mädchen und Jungen bei sich ein- und ausgehen ließ”. Mehr habe er “natürlich nicht mitbekommen”.

In ihrem Brief vom 19. Februar schreiben die Altschüler außerdem: “Unsere Geduld ist erschöpft.” Denn so offen die Gespräche in Frankfurt auch geführt wurden – “danach passierte wieder monatelang nichts”, sagt der Betroffene Stefan Diers (Name geändert). Im Dezember gab es noch einmal eine interne Konferenz an der OSO, bei der der Vorstand nicht vollzählig versammelt war. Die Vorstandsvorsitzende Sabine Richter-Ellermann – eine langjährige enge Gefährtin von Gerold Becker und Hartmut von Hentig – verließ frühzeitig den Raum.

Wieder, sagt der Altschüler Dehmers, habe die Schule Anstalten gemacht, sich vor ihrer Verantwortung zu drücken. Noch immer herrsche an der OSO, was er das “System Becker” nennt: Weil jeder etwas vom anderen wisse, habe nie jemand den Mund aufgemacht. Auch der Ex-Lehrer Ansari ist zutiefst enttäuscht: “Der Schule ging es immer nur um ihren schönen Ruf. So ist es bis heute.” Diesmal aber ließen die Altschüler nicht locker und stellten der Schule ein Ultimatum: bis zu diesem Sonntag, so ihre Forderung, solle sich der Vorstand öffentlich entschuldigen. Außerdem verlangen sie detaillierte Angaben über “die Anzahl der Betroffenen, die Benennung der Täter und die Analyse des Systems, welches die Misshandlungen ermöglicht hat”. Schließlich müsse die Vorstandsvorsitzende Richter-Ellermann wegen “ihrer jahrelangen und bis heute andauernden Untätigkeit” zurücktreten.

Der Brief löste in der OSO hektische Aktivitäten aus. Nach heftigem internen Gerangel rang sich der Vorstand am 1. März eine Stellungnahme ab, in der er den jahrelangen Missbrauch durch Lehrkräfte “erkennt” und “eine neue Haltung” gegenüber den Opfern verspricht. Vier der Altschüler erhielten kurz darauf eine Entschuldigung. Sie gipfelt in dem Satz: “Wir bitten auch um Verzeihung für die lange Zeit, die es gedauert hat, bis Ihre Verletzungen in der Schule wirklich wahrgenommen und anerkannt wurden.”

Jürgen Dehmers aber sagt: “Jetzt ist es zu spät.” Die Schule habe erst reagiert, als sie mit dem Rücken zur Wand stand. Wie ernst es der OSO tatsächlich mit der Aufarbeitung sei, zeige die Tatsache, dass der Bericht des Frankfurter Psychologen Schwertl mit all den Schilderungen des jahrelangen Missbrauchs nicht in der Festschrift zum 100-jährigen OSO-Bestehen erscheinen soll. “Es kann jetzt nur noch um eine vollständige Aufklärung und eine vollständige Publikation gehen”, sagt Dehmers. Vorher werde er keine Ruhe geben.

Und die Zahl seiner Mitstreiter wächst. Auch der Altschüler-Verein ist inzwischen tätig geworden und verlangt eine lückenlose Information. Am 27. März wird es eine außerordentliche Mitgliederversammlung geben. Altschülerin Amelie Fried hat dem Vorstand mitgeteilt, sie werde im Juli “für keine wie auch immer geartete Jubel- oder Vertuschungsveranstaltung zur Verfügung stehen”. Sie werde nur kommen, wenn der vermeintliche Feier-Tag statt dessen dem Thema “Missbrauch, Aufarbeitung und Prävention” gewidmet werde. Auch Fried fordert “den sofortigen und kompletten Rücktritt des Vorstandes des Trägervereins”. Dessen Vorsitzende Richter-Ellermann kann man dazu nicht befragen: Sie will sich einstweilen nicht öffentlich äußern.

Immerhin: Ihre Homepage hat die Odenwaldschule auf Druck der Altschüler jüngst leicht verändert. Bis Mitte Februar stand dort noch unter der Rubrik “über die OSO” ein sinniges Zitat von Hartmut von Hentig. Es lautet: “Endlich die Schule, die Rousseau gefordert hat … Sie guckt auf die Kinder, sieht, was sie brauchen, und sieht auch die Folgen dessen, was sie selbst tut.” Der Satz ist inzwischen verschwunden.

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Copyright © FR-online.de 2010
Dokument erstellt am 05.03.2010 um 18:00:11 Uhr
Letzte Änderung am 06.03.2010 um 18:10:29 Uhr
Erscheinungsdatum 06.03.2010 | Ausgabe: d

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19
Jan
10

Prof Benz,sein Nazidoktorvater und was hat Gudrun Eussner damit zu tun?

Das Hinterfragen arbeitsbiographischer “Leerstelen” von Prof Benz wird nachvollziehbar herausgearbeitet. Den Schlussverweis auf Gudrun Eussner verstehe ich nicht.Soll er nur illustrieren,dass es auch andere,nichfaschistische Profs in der Bundesrepublik zwischen 45-89 gab? Frau Eussner per se dürfte ja nicht unbedingt als Konkurrentin im Historiker-Wissenschaftsbetrieb  für Benz gemeint sein,oder?

Ein Nazi und sein Schüler: Karl Bosl und Wolfgang Benz

Von Dr. Clemens Heni 15.01.2010   20:35

Am 11. November 2008 wurde in der oberpfälzischen Stadt Cham der Prof.-Dr.-Karl-Bosl-Platz feierlich eingeweiht(1), am 6. Juli 2009 wurde vom Bayerischen Philologenverband erstmals die Karl-Bosl-Medaille verliehen(2), und für den 26. November 2009 wurde eine Veranstaltung mit dem Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung (ZfA), Wolfgang Benz, mit den Worten angepriesen, Benz habe 1968 bei Karl Bosl promoviert.(3) Karl Bosl ist also en vogue und scheint ein echter deutscher oder gar bayerischer Held gewesen zu sein.

„Erinnern oder Verweigern“ heißt eine Ausgabe der „Dachauer Hefte“, die von Barbara Distel und Wolfgang Benz 1990 herausgegeben wurde. Kaum ein Wissenschaftler oder Journalist hat sich offenbar je gefragt, wo Wolfgang Benz wissenschaftlich groß geworden ist. Wo hat der Mann promoviert und bei wem? Wer selbst promoviert hat oder mit Freunden und Kollegen darüber spricht, weiß: Es ist ein sehr bewusster Prozess, bei wem man schließlich seine Doktorarbeit schreibt.
Wolfgang Benz hat 1968 in München beim 1908 geborenen Mittelalterhistoriker Karl Bosl promoviert.(4) 1988 erschien anlässlich des 80. Geburtstages von Bosl eine Festschrift; Benz ehrte dort wie selbstverständlich den Jubilar mit einem Beitrag.(5) Bereits 1983 war er – wie der selbst ernannte Faschist Armin Mohler und der nationalsozialistische Historiker und antisemitische „Ostforscher“ Theodor Schieder – Teil der umfangreichen Tabula Gratulatoria, als Bosl seinen 75. Geburtstag feierte. Das ist durchaus bemerkenswert, denn keineswegs alle ehemaligen Schüler von Karl Bosl verehrten ihren Doktorvater weiterhin: Ein Freund von Benz beispielsweise, der Historiker Falk Wiesemann, der insbesondere zur deutsch-jüdischen Geschichte forscht, hat sich jedenfalls nicht in die Gratulantenschar von 1983 eingereiht.(6)

2009 wurde dann, wie erwähnt, für eine Veranstaltung mit Benz in Aalen (Baden-Württemberg) offensiv damit geworben, dass Bosl der Doktorvater von Benz war. Üblicherweise sehen Referenten Ankündigungstexte, -plakate etc. vorab, das heißt: Benz hätte intervenieren können oder sogar müssen, wenn es ihm unangenehm oder peinlich gewesen wäre, gerade als Leiter des ZfA zu betonen, aus wessen Hand er seinerzeit den Doktortitel erhielt.(7)

Hat Wolfgang Benz also kein Problem mit Karl Bosl?
Bosl trat 1933 in die NSDAP und in die SA ein; zudem wurde er Mitglied im Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB). Er bewarb sich für das 1938 ausgeschriebene Projekt des „Ahnenerbes“ der SS mit dem Thema „Wald und Baum in der arisch-germanischen Geistes- und Kulturgeschichte“ und wurde angenommen, wie der Historiker Bernd-A. Rusinek im Jahr 2000 berichtete. Bosl gehörte zum „nationalsozialistischen Mainstream“ dieses SS-Projekts, wie Rusinek in einem wissenschaftlichen Aufsatz feststellte.(8)

Am 27. Januar 1945 wurden die wenigen Überlebenden des Vernichtungslagers Auschwitz von der Roten Armee befreit. Kurz zuvor, am 16. und 17. Januar 1945, hatten sich einige Historiker des nationalsozialistischen Deutschland zu einer Tagung getroffen.(9) Mit dabei war auch der damals 36jährige Historiker Karl Bosl, wie Rusinek herausfand:

„Bosl beteiligte sich auch an der vermutlich letzten Historikertagung des ‚Dritten Reiches‘. Diese wurde im wesentlichen von Theodor Mayer organisiert und fand am 16. und 17. in Braunau am Inn statt – nirgends anders als im Geburtshaus des ‚Führers‘. Tagungsthema waren ‚Probleme der Siedlungs – und Verfassungsgeschichte der baierischen Stammesgebiete‘. Karl Bosl referierte über den ‚Landesausbau im baierischen Raum‘, Otto Brunner über ‚Entstehung einer österreichischen Geschichtsauffassung‘. Ein Kollege, Privatdozent, von dem Mediävisten Gerd Tellenbach nach der ‚Machtergreifung‘ erstaunt darauf angesprochen, warum er denn in die ‚Partei‘ eingetreten sei, formulierte das klassische Opportunisten-Credo: ‚Man möchte doch auch einmal einen Ruf haben.‘ Aber – und damit wird eine subjektive Einschätzung formuliert – es geht über dieses Maß erheblich hinaus, wie Bosl noch im Frühjahr 1945 in Hitlers Geburtshaus an einer Historikertagung teilzunehmen.“(10)

Weiter schrieb Rusinek:
„Nach Bosls Selbstäußerungen, nach der SD-Einschätzung wie nach seinen Aktivitäten weist alles darauf hin, daß er bis Frühjahr 1945 ein bekennender Nationalsozialist gewesen ist.”(11)

Der SD hatte über Bosl bei „der Bewerber-Vorauswahl“ des SS-Projektes recherchiert und war zu dem Schluss gekommen:
„Bosl (bes. geeignet:+ /Parteigen.:+ /W’ansch.:+ / Bemerk.: einsatzfähig wiss. Nachwuchs).“(12)

Karl Bosl war ein hoch angesehener Historiker; er ist einer der bekanntesten Mittelalterhistoriker bis heute, nicht nur in Deutschland. Hätte Benz sich einmal die Mühe gemacht, die Sprache von Bosl nach 1945 mit seinen Quellen und Ideologemen vor 1945 zu vergleichen, dann hätte er merken können, was Rusinek analysierte:
„Der Untertitel ‚Sozialgeschichte‘ dieses 1949 veröffentlichten Beitrages(13) läßt die Technik des Wissenschaftlers erkennen, Fragen von gestern gleichsam neu zu formatieren und in ein nunmehr opportunes Theoriedesign zu rahmen. (…) Als Bezugsautoren fungieren Brunner, Bosls Mit-Referent auf der bemerkenswerten Historikertagung vom Januar 1945 im Geburtshaus des ‚Führers‘, Mitteis sowie Bosls Habilitations-Gutachter von 1944, Theodor Mayer“.(14)
1963 gab Bosl einen Festband für Theodor Mayer heraus – einen im nationalsozialistischen Wissenschaftsbetrieb sehr aktiven Historiker –, gespickt mit einem gleichsam enthusiastischen Text zu dessen 80. Geburtstag.(15)

In einem Interview wurde Bosl 1990 unter anderem über die Zeit des Nationalsozialismus befragt. Bosl log nachgerade wie gedruckt und stellte sich gar als Widerstandskämpfer dar. Er zeigte keinerlei Reue und schwieg einfach über seine Mitgliedschaften in der NSDAP, der SA und dem NSLB und zu seiner Mitarbeit in einem Projekt des „Ahnenerbes“ der SS. Schlimmer noch – er sagte:

„Diese Wanderjahre habe ich eigentlich in aller Stille verbracht, ich hab mich überall zurückgezogen, denn von zu Haus aus hat die antihitleristische Haltung meines Elternhauses bei mir schon sehr stark nachgewirkt. Und ich hab meine Doktorarbeit gemacht. Ich war nirgends dabei damals, ich hab meine Doktorarbeit gemacht, und ich habe im Jahre 1938 dann in München promoviert und hab mich dann sofort entschlossen, nachdem das sehr gut gelang, Karl Alexander von Müller zu bitten, mich als Habilitanden anzunehmen.“(16)

Bosl sprach also die Unwahrheit über seine Zeit im Nationalsozialismus und über seine Mitgliedschaften und Aktivitäten in nationalsozialistischen Organisationen – doch Wolfgang Benz kümmert das bis heute nicht. Bosl betrieb eine Derealisierung, das heißt eine Entwirklichung der eigenen nationalsozialistischen Vergangenheit. Das ist eine typische Form des sekundären Antisemitismus, der eigentlich zum Forschungsbereich des ZfA gehören sollte.

In einem Brief an das „Ahnenerbe“ der SS aus dem Jahr 1942, also während des Holocaust, betonte Bosl, er arbeite bzw. habilitiere „bei Prof. Karl Alexander von Müller“.(17) Bosl schrieb das mit ersichtlichem Stolz, augenscheinlich insbesondere vor dem Hintergrund, dass von Müller ein sehr einflussreicher Akademiker und Nationalsozialist war, mit Hitler gut bekannt seit den frühen 1920er Jahren, zudem Schwager eines Vordenkers der NSDAP, Gottfried Feder, sowie Doktorvater des Historikers Theodor Schieder.(18) 1964 gab Bosl eine Festschrift zu von Müllers 80. Geburtstag heraus.(19) Nazi-Seilschaften im Wirtschaftswunderland. Wenig später wurde Wolfgang Benz der Doktorand von Bosl.

1964 publizierte Karl Bosl zudem im rechtsextremen Witikobund.(20)

Aus Bosls Betonung im Jahr 1990, „damals“ „nirgends dabei“ gewesen zu sein und bei von Müller habilitiert zu haben, spricht die Unverfrorenheit, Schamlosigkeit und Feigheit eines ganz normalen Deutschen, der schon frühzeitig Mitglied in der NSDAP und anderen nationalsozialistischen Organisationen wurde. Bosl starb 1993 als geehrter Mann; Nachrufe lobten den „Historiker mit Humor“(15), heute werden Medaillen und Plätze nach ihm benannt – und der bekannteste deutsche Antisemitismusforscher lässt auf Veranstaltungsplakaten betonen, dass er bei ihm promoviert hat. Bosl wollte nicht an seine NSDAP- oder SA-Mitgliedschaft erinnert werden – wohl deshalb hat er gelogen, als er in einem Interview Auskunft über die Zeit des Nationalsozialismus geben sollte. Erinnerungsabwehr ist ein ganz einfacher Vorgang, solange niemand kritisch nachhakt.

Fakt ist also: Wolfgang Benz hat dem ehemals überzeugten Nationalsozialisten Karl Bosl, seinem Doktorvater von 1968, noch 1988 zum 80. Geburtstag gratuliert und lässt bis heute damit werben, dass er bei ihm promoviert hat. Bosl war zudem zumindest in den 1960er Jahren in rechtsextremen Kreisen wie dem Witikobund aktiv.
Dabei hätte Benz merken müssen, dass z.B. in Bosls „Bayerischer Geschichte“ (1. Auflage 1971; 7., durchgesehene Auflage 1990) der Nationalsozialismus einfach übersprungen wird, eine Leerstelle ist. Der Holocaust als Teil auch der bayerischen Geschichte wird einfach geleugnet, weil Bayern 1933 aufgehört habe, „eine eigene Staatspersönlichkeit zu sein“. Stattdessen sucht Bosl eifrig danach, ob es noch ein „besonderes bayerisches Menschsein geben kann“.(21)

Die Historikerin Anne Christine Nagel schrieb in ihrer Habilitationsschrift aus dem Jahr 2005 über Bosl:
„Bosl trat im Mai 1933 in die NSDAP (Nr. 1884319) und gleichzeitig auch in die SA ein, 1934 kam die Mitgliedschaft im NSLB hinzu. Dies nach R 21 (Hochschullehrerkartei; BDC Ahnenerbe, Karl Bosl sowie Bosl, Karl (NSLB), 11.11.08 (Technisches zur Mitgliedschaft im NSLB) sämtlich im BAB. (…)
Denn entgegen seiner Selbstdarstellung übte Bosl nach der Machtergreifung alles andere als Distanz zum Regime. Als Parteimitglied der ersten Stunde, Mitglied in SA und Leiter verschiedener nationalpolitischer Schulungslager setzte er sich vielmehr ausgesprochen aktiv für die Ziele des Nationalsozialismus ein. Begeisterter Gymnasiallehrer, der Bosl, aus ländlichem Milieu stammend, über Jahre hinweg war, spielte er eine maßgebliche Rolle im Nationalsozialistischen Lehrerbund.“(22)

Auf meine per E-Mail an Wolfgang Benz gerichtete freundliche Anfrage vom 8. Januar 2010 zu seinen Äußerungen zur politischen Biografie von Karl Bosl erhielt ich keine Reaktion.

Wussten die beteiligten Akademiker bei der Einstellung von Benz als Leiter des ZfA im Jahr 1990 von der Tatsache, dass Benz nur kurz zuvor in einer Festschrift für seinen Nazi-Doktorvater Bosl mit einem Beitrag vertreten war?

Benz ist bekannt für seine häufigen Kommentare und Einlassungen in Printmedien sowie in Film, Funk, und Fernsehen, und er versucht stets den Eindruck zu vermitteln, dass ihm die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinen Verbrechen in jeder (!) Hinsicht ein wirklich ernstes Anliegen ist. Doch wie es aussieht, hatte er zur wissenschaftlichen und politischen Herkunft seines Doktorvaters über inzwischen mehr als 40 Jahre hinweg nichts zu sagen. Dabei ist es doch beschämend, ja, geradezu peinlich und würdelos – insbesondere als bekannter, zur NS-Zeit, zum Antisemitismus und zum Holocaust arbeitender Historiker –, einem ehemals bekennenden Nationalsozialisten zum 80. Geburtstag zu gratulieren und wenig später Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung zu werden. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der Benz 1988 für Bosls Festband schrieb, würdigt er seitdem auch Überlebende der Shoah.

1990 schrieb Wolfgang Benz in den von ihm mitbegründeten „Dachauer Heften“:
„Das Dilemma zwischen moralischen Anspruch, politischer Notwendigkeit und sozialer Realität blieb ungelöst. Die Entnazifizierung wurde für die meisten mit Erleichterung als Endpunkt verstanden, von dem an der Nationalsozialismus eine Generation lang mit kollektivem Schweigen, in weitverbreiteter Amnesie, behandelt wurde. Erst die Enkel versuchten dies Schweigen zu brechen, ihr Dialog mit der nationalsozialistischen Vergangenheit hat spät, erst Ende der 60er Jahre begonnen.“
(23)

Benz selbst hat Ende der 1960er Jahre allerdings offenbar gerade nicht geschaut, ob sein eigener Fachbereich mit Nazis besetzt war. Und wenn er es doch wusste, hat er sich nie darum gekümmert, was ein vormaliger Nationalsozialist wie Bosl (24) im NS-Staat konkret getan hat.

Nicht alle Professoren in der alten Bundesrepublik waren Ex-NSDAP Mitglieder oder arbeiteten in Projekten des „Ahnenerbes“ der SS mit. Fast zur gleichen Zeit, zu der Wolfgang Benz promovierte, reichte Gudrun Traumann in Berlin an der Freien Universität ihre Dissertation zum Thema „Journalistik in der DDR“ ein, 1969 nämlich.(25) Ihr Doktorvater war Hellmut von Rauschenplat alias Fritz Eberhard. Rauschenplat war vom NS-Staat per Haftbefehl gesucht worden und hatte sich im Untergrund den Namen Fritz Eberhard gegeben. Er war u.a. bis 1939 im „Sozialistischen Kampfbund“ aktiv. Der Co-Referent bei Traumanns Dissertation war Ossip K. Flechtheim, der nur durch seine Flucht ins Exil in die Schweiz bzw. in die USA überleben konnte. Während Benz also bei einem alten Nazi promovierte, erhielt Traumann fast zeitgleich ihren Doktortitel von Opfern und Gegnern des Nationalsozialismus.

Heute spielt Benz die Gefahr des islamischen Antisemitismus und des islamischen Dschihad insgesamt herunter, ja, er setzt Antisemitismus und „Islamfeindschaft“ – wie er offenbar jegliche Kritik am politischen Islam bezeichnet – gleich. (26) Gudrun Traumann heißt inzwischen Gudrun Eussner; sie ist eine Publizistin und Kritikerin des islamischen Dschihad, des muslimischen Antisemitismus und der ZfA-Konferenz über „Feindbild Jude – Feindbild Muslim“ von Dezember 2008.(27)

Man fragt sich nach alledem: Wie glaubwürdig ist der Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung Wolfgang Benz, wenn er einem ehemaligen Mitglied der NSDAP, der SA und des NS-Lehrerbundes wie seinem Doktorvater Karl Bosl noch im Jahr 1988 in einer Festschrift gratuliert – einem Mann, der noch im Januar 1945 im Geburtshaus von Hitler an einer Historikertagung teilnahm, damit also offenbar zeigen wollte, wie eng diese Historiker zu ihrem „Führer“ standen?

Wie glaubwürdig ist Benz, wenn er noch im November 2009 eine Veranstaltung zu einem Vortrag von ihm in Aalen damit bewerben lässt, dass Karl Bosl(28) sein Doktorvater war? Was ist von einem Historiker zu halten, dem es augenscheinlich bis ins Jahr 2010 hinein nichts ausmacht, dass sein Doktorvater bei einem Projekt des „Ahnenerbes“ der SS mitarbeitete?(29)

Möchte also der Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an die Geschichte des Nationalsozialismus und der aktiven Nazis im NS-Staat erinnern – oder verweigert er diese Erinnerung, sobald es an die eigene Geschichte geht?

Anmerkungen:
(1) http://www.mittelbayerische.de/index.cfm?pid=3073&pk=317550&p=1 (abgerufen am 10.01.2010).
(2) http://www.bpv.de/service/presse/2009/presse07072009.htm (abgerufen am 10.01.2010).
(3) http://www.ostalbmap.de/sixcms/media.php/26/PM459_2009Einladung-Benz.pdf (abgerufen am 10.01.2010).
(4) Wolfgang Benz (1970): Süddeutschland in der Weimarer Republik. Ein Beitrag zur deutschen Innenpolitik 1918–1923, Berlin: Duncker & Humblot. In der Einleitung heißt es: „Diese Arbeit ist 1968 von der Philosophischen Fakultät der Universität München als Dissertation angenommen worden. Es ist mir ein aufrichtiges Bedürfnis, meinem verehrten Lehrer Professor Dr. Karl Bosl für die Anregung und Betreuung dieser Arbeit zu danken.“
(5) Wolfgang Benz (1988): Herrschaft und Gesellschaft im nationalsozialistischen Staat, in: Ferdinand Seibt (Hg.): Gesellschaftsgeschichte. Festschrift für Karl Bosl zum 80. Geburtstag, herausgegeben im Auftrag des Collegium Carolinum von Ferdinand Seibt, München: R. Oldenbourg Verlag, S. 243-255. Der erste Satz des Artikels stehe paradigmatisch für ein Ausblenden je subjektiver Verantwortlichkeit: „Die nationalsozialistische Herrschaft gründete sich auf der Ekstase der Beherrschten“ (ebd.: 243). Der Herausgeber schweigt über die Vergangenheit von Bosl; siehe Ferdinand Seibt (1988a): Zur Gratulation, in: ders. (Hg.): Gesellschaftsgeschichte. Festschrift für Karl Bosl zum 80. Geburtstag, Band 1, S. 9f. Benz geht nicht auf Bosl ein; der Beitrag selbst scheint Ehrung genug zu sein. Allerdings fällt auf, dass Benz in seinem knappen Text den Antisemitismus des Nationalsozialismus unter der Rubik „etliche Feindbilder“ (wie „Juden oder Bolschewisten“ bzw. „Juden, Kommunisten, zersetzenden Intellektuelle“), subsumiert, den Holocaust also nicht als präzedenzloses Verbrechen analysiert. Der Holocaust ist zwar nicht das Thema des Aufsatzes; dennoch ist diese Ungenauigkeit schon deshalb von Bedeutung, da Kommunisten auf andere Weise Opfer wurden als Juden: Kommunisten konnten sich notfalls arrangieren; der eliminatorische Antisemitismus hingegen verfolgte jeden einzelnen Juden als solchen. Der Begriff „Volksgemeinschaft“ taucht im Text von Benz ganz bewusst nur in Anführungsstrichen auf, so, als wäre die antisemitische deutsche Gesellschaft zwischen 1933 und 1945 nur am Rande oder nicht wirklich als Volksgemeinschaft aktiv gewesen. Benz geht es um „Herrschaftstechnik“, um „Propaganda“, „Regie des öffentlichen Lebens“, „Ästhetik“, „Kulthandlungen als Religionsersatz“ sowie um „die Stilisierung des Volks als Kultverband.“ Auffallend ist die weitgehende Abwesenheit von aktiven Deutschen, die den NS-Staat gestalteten.
So ist es auch kein großes Wunder, dass Wolfgang Benz 1998 auf dem 42. Deutschen Historikertag in Frankfurt am Main, wo es in großen Debatten um die Biografien von führenden deutschen Historikern während der NS-Zeit ging – wie Theodor Schieder, Werner Conze und Otto Brunner –, keine Rolle spielte. Nicht erst, aber verschärft seit diesem Historikertag sind die Lebensläufe und produzierten Ideologeme sowie die Tätigkeiten von Historikern und anderen Wissenschaftlern im Nationalsozialismus Gegenstand vielfältiger Forschungen. Dabei hätte Benz allen Grund nachzuhaken: Er selbst hat 1976 für einen dieser nun konsequent zu kritisierenden Historiker einen Gedächtnisband mit ediert: Wolfgang Benz/Hermann Graml (Hg.) (1976): Aspekte deutscher Außenpolitik im 20. Jahrhundert. Aufsätze Hans Rothfels zum Gedächtnis, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt. Interessant ist u.a. – zumal angesichts der Tatsache, dass Benz heute Antisemitismusforscher ist –, dass der Großmufti von Jerusalem Hajj Amin al-Husseini gänzlich positiv und als Retter der Araber vorgestellt wird, ohne dass von seinem Antisemitismus die Rede wäre; siehe Alexandre Kum’a N’dumbe III (1976): Pläne zu einer nationalsozialistischen Kolonialherrschaft in Afrika, in: ebd., S. 165-192, hier: S. 170. Heute vertritt N’dumbe III die These, es sei ein „Genozid“, wenn an afrikanischen Universitäten auf Englisch unterrichtet wird: http://clemensheni.wordpress.com/2009/09/07/arabophile-ausstellung/
(6) Siehe die Tabula Gratulatoria in Ferdinand Seibt (1983): Die böhmischen Länder zwischen Ost und West. Festschrift für Karl Bosl zum 75. Geburtstag, München/Wien: R. Oldenbourg Verlag, S. IX-XVI. Wiesemann hat bei Bosl promoviert; in der Festschrift zum 70. Geburtstag ist er jedoch nicht vertreten, auch nicht bei den Ehrungen zum 75. oder 80. Geburtstag von Bosl. Siehe Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte, Band 41, Heft 2/3, 1978, „Die in diesem Band vereinigten Aufsätze widmen die Autoren Karl Bosl zum 70. Geburtstag“.
Ein fachgeschichtlich ausgerichteter Artikel geht kurz auf Bosl ein, ohne jedoch dessen NS-Vergangenheit in den Blick zu nehmen, obwohl Bosl im NS promoviert und habilitiert hat; siehe Klaus Schreinber (1989): Wissenschaft von der Geschichte des Mittelalters nach 1945. Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Mittelalterforschung im geteilten Deutschland, in: Ernst Schulin (Hg.): Deutsche Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. Unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner, München: R. Oldenbourg Verlag, S. 87-146, hier S. 108f. bzw. 130-134.
(7) „Wolfgang Benz wurde am 9. Juni 1941 in Ellwangen geboren. Der Vater war Arzt und als Katholik Gegner der Nationalsozialisten. Er wuchs in Aalen auf und machte am Schubart Gymnasium das Abitur. Danach studierte er Geschichte, Politologie und Kunstgeschichte in Frankfurt/Main, Kiel sowie München und schrieb nebenher für die Ellwanger ‚Ipf- und Jagstzeitung’. 1968 folgte die Promotion in München bei Karl Bosl mit einer Analyse über Süddeutschland in der Weimarer Zeit.“ http://www.ostalbmap.de/sixcms/media.php/26/PM
459_2009Einladung-Benz.pdf (abgerufen am 10.01.2010) Die Formulierung „als Katholik Gegner der Nationalsozialisten“ ist abwegig, da damit doch suggeriert wird, Katholiken seien häufig, oft oder gar per se „Gegner der Nationalsozialisten“ gewesen. Dieser Ankündigungstext scheint zudem einfach aus dem bekannten Munzinger-Archiv herauskopiert worden zu sein. Auch der dort zu findende Beitrag zu Karl Bosl ist lückenhaft; vgl. http://www.munzinger.de (abgerufen am 08.01.2010). Zu einer exemplarischen Analyse von Katholizismus, Antisemitismus und Nationalsozialismus siehe Clemens Heni (2009): Neudeutscher Antihumanismus, Antiliberalismus und Antisemitismus vor, während und nach dem Nationalsozialismus: Wenig bekannte Quellen des katholischen Bundes Neudeutschland, in: ders. (2009a): Antisemitismus und Deutschland. Vorstudien zur Ideologiekritik einer innigen Beziehung, Morrisville (NC): lulu Verlag, S. 106-178.
(8) Bernd-A. Rusinek (2000): „Wald und Baum in der arisch-germanischen Geistes- und Kulturgeschichte“ – Ein Forschungsprojekt des „Ahnenerbe“ der SS 1937 – 1945, in: Albrecht Lehmann/Klaus Schriewer (Hg.) (2000): Der Wald – Ein deutscher Mythos? Perspektiven eines Kulturthemas, Berlin/Hamburg: Dietrich Reimer Verlag, S. 300. Um in diese Kategorie zu fallen, mussten zwei der folgenden Kategorien erfüllt sein: „1.) NSDAP-Mitglied; 2.) SS-Angehöriger, 3.) wissenschaftlicher Ahnenerbe-Mitarbeiter; 4.) publizistisch im nationalsozialistischen Sinne ausgewiesen, so etwa durch Beiträge in der Zeitschrift ‚Germanien‘; 5.) Mitarbeiter des SD; 6.) Protegiert von ausgesprochen nationalsozialistischen Groß-Ordinairen; 7.) Protegiert von Himmler oder Göring persönlich; 8.) ‚Alter Kämpfer‘.“ (Rusinek 2000: 300). Auf Bosl trafen die beiden Kriterien 1.) und 6.) zu, „gegen Kriegsende kam das Kriterium 4.) hinzu“ (ebd.: 300, Anm. 106).
(9) Rusinek 2000, S. 267-363, hier S. 348.
(10) Rusinek 2000: 348.
(11) Rusinek 2000: 349.
(12) Rusinek 2000: 346.
(13) Der Beitrag heißt „Forsthoheit als Grundlage der Landeshoheit in Baiern. Die Diplome Friedrich Barbarossas von 1156 und Heinrichs VI. von 1194 für das Augustinerchorherrenstift Berchtesgaden. Ein Beitrag zur Verfassungs-, Siedlungs-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte des bayerischen Alpenlandes“ (zitiert nach Rusinek 2000: 349).
(14) Rusinek 2000: 349f.
(15) Karl Bosl (Hg.) (1963): Bohemia. Jahrbuch des Collegium Carolinum. Band 4, München: Verlag Robert Lerche; Karl Bosl (1963a): Zum 80. Geburtstag von Prof. Theodor Mayer, dem 1. Vorsitzenden des Collegium Carolinum, in: ebd., S. 9-15. Bosl rechtfertigt hier die historischen Tagungen der NS-Historiker: „Unter dem Motto ‚Einsatz der Geisteswissenschaften im Krieg‘ gelang es dem Präsidenten in schwerster Zeit, in der sonst Klio als Wissenschaft schweigt, jedoch in geschichtemachendem Sturm durch die Völker rast, die deutschen Mediävisten und Rechtshistoriker zu gemeinsamen Tagungen zusammenzuführen, auf denen kein Wort ‚historische Politik‘ gesprochen, aber genau so wie auf Mainau und Reichenau in höchstem Ernst mit den Problemen des deutschen Mittelalters gerungen wurde. Ich denke an Magdeburg, wo eine das Dritte Reich so erregende Frage wie die der germanischen Kontinuität in scharfer Diskussion und mit größter Sachlichkeit erörtert wurde, sodaß einer der Hauptredner und Hauptkritiker von damals, Hermann Aubin, die Ergebnisse noch 1945 in einem großen Aufsatz ohne Streichung veröffentlichen konnte.“ (ebd.: 12) Bosl rechtfertigt damit auch die Tagung von Januar 1945 im Geburtshaus des „Führers“.
(16) Karl Bosl (1990/1996): Karl Bosl. Eine Bibliographie. Haus der Bayerischen Geschichte. Materialien zur Bayerischen Geschichte und Kultur 3/96, Augsburg: Bayerische Staatskanzlei. Haus der Bayerischen Geschichte, S. 19, Herv. C.H.
(17) Vgl. Rusinek 2000: 347. Quelle: „BAB, NS 21-336: Studienrat Dr. Karl Bosl an Ahnenerbe, undat. (April 1942)“ (ebd., Anm. 281).
(18) Vgl. zu von Müller und Schieder: Götz Aly (1999): Theodor Schieder, Werner Conze oder Die Vorstufen der physischen Vernichtung, in: Winfried Schulze/Otto Gerhard Oexle (Hg.) (1999): Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, S. 163-182, hier S. 167. Zur Diskussion über Historiker im Nationalsozialismus und das Schweigen oder Affirmieren danach siehe auch Rüdiger Hohls/Konrad H. Jarausch (Hg.) (2000): Versäumte Fragen. Deutscher Historiker im Schatten des Nationalsozialismus. Unter Mitarbeit von Torsten Bathmann, Jens Hacke, Julia Schäfer und Marcel Steinbach-Reimann, Stuttgart/München: Deutsche Verlags-Anstalt.
(19) Peter Schöttler (1997/1999): Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918-1945. Einleitende Bemerkungen, in: ders. (Hg.) (1999): Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918-1945, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, S. 7-30, hier S. 25, Anm. 26.
(20) http://www.witikobund.de/html/schriften.HTM (abgerufen am 15.01.2010). Das Wirken von Karl Bosl nach 1945 harrt weiter seiner kritischen Analyse. Der Witikobund jedenfalls, für den er 1964 schrieb, wurde bis 1967 vom Bundesministerium des Innern als „rechtsextrem“ eingestuft (vgl. http://www.klick-nach-rechts.de/gegen-rechts/2001/04/witiko02.htm (abgerufen am 15.01.2010), sprich: Benz promovierte nicht nur bei einem alten Nazi, vielmehr auch bei einem aktiven Rechtsextremisten in der Bundesrepublik.
(21) Friedrich Prinz (1993): Bayerns Besonderheit. Historiker mit Humor und große Figur: Zum Tode von Karl Bosl, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.01.1993. Genauso lobhudelnd der Nachruf in der NZZ von Peter Blickle (1993): Das unruhige Mittelalter. Zum Tod des Historikers Karl Bosl, in: Neue Zürcher Zeitung, 21.01.1993. Eine weitere, den aktiven Nationalsozialismus Bosls komplett derealisierende Huldigung, welche die von „Karl Alexander von Müller betreute[]“ Dissertation Bosls feiert, von Eberhard Weis (1993): Karl Bosl 11.11.1908-18.1.1993, in: Bayerische Akademie der Wissenschaften. Jahrbuch 1993, München: Verlag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, S. 246-252, hier S. 257. Ausführlich und ebenso affirmativ der Nachruf der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Wilhelm Störmer (1994): Nachrufe: Karl Bosl (1908-1993), in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte. Herausgegeben von der Kommission für bayerische Landesgeschichte bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in Verbindung mit der Gesellschaft für fränkische Geschichte und der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft, Band 57, S. 171-176. Hier wird auch die internationale Bedeutung von Bosl deutlich, dem als „verehrte[r] Vaterfigur“ geschmeichelt wird: „Zahlreich sind die Ehrungen, die Karl Bosl erfahren hat. Er war Mitglied angesehener Gesellschaften, der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, der Britischen Akademie der Wissenschaften in London, der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien, der Medieval Academy of America (Cambridge/Mass.), der Europäischen Akademie der Geschichte in Brüssel; er erhielt eine Rose-Morgan-Professur an der Universität Lawrence/Kansas (USA) und eine Carl-Schurz-Professur an der Universität Madison/Wisconsin (USA). Für seine Verdienste wurde er auch im öffentlichen Bereich hoch geehrt, so mit der Lodgman-von-Auen-Medaille, der Adalbert-Stifter-Medaille, dem Großen Kulturpreis der Sudetendeutschen Landsmannschaft, dem Kulturpreis des Bayerwaldes, dem Bayerischen Verdienstorden, dem Großen Bundesverdienstkreuz, 1983 mit dem Preis der Bayerischen Volksstiftung, 1984 mit dem Bayerischen Maximiliansorden für Wissenschaft und Kunst, Abteilung Wissenschaft, 1985 mit der Bayerischen Verfassungsmedaille in Gold. Es versteht sich, daß der geborene Chamer 1984 auch Ehrenbürger der Stadt Cham/Opf. wurde.“ (ebd.: 175f.)
(22) Karl Bosl (1971)/1990: Bayerische Geschichte, 7., durchgesehene Auflage, München: W. Ludwig Buchverlag, S. 237 bzw. 240.
(23) Anne Christine Nagel (2005): Im Schatten des Dritten Reiches. Mittelalterforschung in der Bundesrepublik Deutschland 1945–1970, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 137, Anm. 140 bzw. S. 137. „BAB“ ist die Abkürzung für: Bundesarchiv Berlin.
(24) Wolfgang Benz (1990/1994): Nachkriegsgesellschaft und Nationalsozialismus. Erinnerung, Amnesie, Abwehr, in: Dachauer Hefte Heft 6: Erinnern oder Verweigern. Das schwierige Thema Nationalsozialismus, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, S. 12-24, hier S. 24.
(25) Diese Informationen finden sich bei Wikipedia – http://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Bosl (abgerufen am 07.01.2010) – und auch in einem Kulturlexikon: Ernst Klee (2007): Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt am Main: Fischer Verlag, S. 70. Bosl war auch Mitarbeiter der „Landesleitung Süd des Bundes Deutscher Osten“ (ebd.), einer nationalsozialistischen Organisation, welche „die Grundsätze der nat.-soz. Volkstumspolitik“ vertrat (vgl. Meyers Lexikon, 8. Auflage, 2. Band, Leipzig 1937, S. 291); diese Position hatte er von 1935–1938 inne; vgl. Rusinek 2000: 346, der zusätzlich anführt, dass Bosl „ab 1939 Kreisverbandsleiter des Reichskolonialbundes Ansbach“ war (ebd.).
(26) Gudrun Traumann (1971): Journalistik in der DDR. Sozialistische Journalistik und Journalistenausbildung an der Karl-Marx-Universität Leipzig, München-Pullach/Berlin: Verlag Dokumentation.
(27) Das ZfA und sein Leiter Benz setzen Antisemitismus und „Islamkritik“ gleich, siehe den Text von Benz in der Süddeutschen Zeitung vom 4. Januar 2010: „Das Feindbild “Westen” im arabischen Kulturkreis wird von Populisten im Westen mit dem Feindbild “Islam” erwidert. Es folgt den gleichen Konstruktionsprinzipien“ (http://www.sueddeutsche.de/politik/837/499119/text/print.html abgerufen am 14.01.2010). Das ist eine Gleichsetzung.
(28) Benz erwähnte in der Einleitung zu dieser ZfA-Konferenz, es habe auch „eine Frau Doktor Euter oder so“ protestiert. Benz könnte sich seriös mit Kritikern befassen und Autoren beim richtigen Namen nennen, statt sich über Internet-Blogger lustig zu machen. Zur Kritik an der ZfA-Konferenz siehe den Text von Gudrun Eussner: „Konferenz Feindbild Muslim – Feindbild Jude. Ein Skandal“, http://www.eussner.net/artikel_2008-12-06_16-02-31.html (abgerufen am 09.01.2010).
(29) Während die Waffen-SS die Juden im Holocaust vernichtete, war Bosl beim „Ahnenerbe“ der SS beschäftigt, ja, er hat seine von der SS bezahlte (!) Forschung gar nach 1945 verwendet, als einer von ganz wenigen aus diesem Projekt, wie Rusinek abschließend hervor- und zumal auf die sprachlichen Veränderungen bei Bosl abhebt sowie decodiert, wie Bosl NS-Ideologie in die BRD hinüberschleppt, lediglich sprachlich verändert: „Deutlich sind die Ansätze des ‚Wald und Baum‘-Projekts zu spüren, wenn Bosl 1949 vom ‚Forstbegriff‘ aus die faktische und verfassungsrechtliche berchtesgadnische Landeshoheit entwickelte oder über den Zusammenhang von Wald, Rodung und Volk schrieb: ‚Neben anderen Ursachen hat also der Wald- und Rodungscharakter unseres Landes entscheidend die verfassungsgeschichtliche Entwicklung der Deutschen beeinflusst, er hat aber auch irgendwie den Typ unseres Volkstums geprägt, indem er den freien Rodungsbauern entstehen ließ, ein kerniges Waldbauerntum, abgehärtet, gesund, kinderreich, aber auch frei, ja eigenbrötlerisch in seiner Gesinnung, stolz auf sein altes, hergekommenes Recht und unerbittlich zäh, ja halsstarrig im Kampf um dasselbe.‘ Es ist nicht zuviel spekuliert, wenn wir annehmen, daß der Begriff ‚Rasse‘ als historische Basalkategorie des ‚Wald und Baum‘-Projekts elidiert und durch die eher schwebenden Relationen ‚neben anderen Ursachen‘ und ‚aber auch irgendwie den Typ unseres Volkstums geprägt‘ ersetzt wurde.“ (Rusinek 2000: 350) Bosls verwendete seine Forschung bei der SS für einen Aufsatz im Jahr 1949; siehe ebd.: 349.

http://www.achgut.com/dadgdx/index.php/dadgd/print/0014713

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29
Nov
09

Ayn Rand

Das wilde Leben einer Freiheitsfanatikerin

Ayn Rand floh 1926 aus Russland nach Amerika, um berühmt zu werden. Ihre Liebe zur Freiheit und ihr Hass auf den fürsorglichen Staat machten die Autorin zur Ikone der Liberalen.


28. November 2009 Von Lisa Nienhaus

Wie ernst sie es damit meinte, berühmt zu werden, zeigt sich daran, dass sie ihren Namen änderte, kurz nachdem sie amerikanischen Boden betreten hatte. Alissa Rosenbaum, jüdische Russin, Tochter eines enteigneten Apothekers und einer Lehrerin in Sankt Petersburg, wurde mit 21 Jahren zu Ayn Rand.

Was der Name genau zu bedeuten hat, darüber hat sie in späteren Jahren unterschiedliche Angaben gemacht. Auf jeden Fall klang er weder jüdisch noch russisch, noch nicht einmal weiblich – und ließ keine Verbindung mehr zu ihrer Familie in Russland erkennen. Es war der Name, mit dem Ayn Rand sich von ihrer Ankunft in Chicago im Jahr 1926 an jedem vorstellen sollte. Es war der Name, mit dem sie Hollywood erobern wollte. “Wenn ich zurückkomme, bin ich berühmt”, hatte sie ihrer Familie bei ihrer Abreise am Bahnhof in Sankt Petersburg verkündet.

Sie sollte nie nach Russland zurückkehren, doch berühmt wurde sie – wenn es auch einige Jahre dauerte. Mitte der vierziger Jahre erlangte sie Ruhm als Romanschriftstellerin, später auch als radikale Anti-Kommunistin und leidenschaftliche Verfechterin der individuellen Freiheit und des Kapitalismus. Obgleich selbst keine Volkswirtin, wurde sie Vorbild für bekannte Ökonomen wie den einstigen Chef der amerikanischen Notenbank Alan Greenspan. Ihre Romane, in denen sie ihre Freiheitsphilosophie in schwülstige Heldengeschichten verpackte, waren Bestseller. Gleichzeitig war sie ein gerne karikiertes Feindbild der Linken: kalt, arrogant, unerbittlich.

An ihrer eigenen Genialität zweifelte Ayn Rand schon als junge Frau nicht mehr. In Russland hatte sie eine weitgehend unglückliche Kindheit verlebt unter einer dominanten Mutter, die es gar nicht schätzte, dass ihre älteste Tochter überaus scheu gegenüber anderen Menschen war und sich dann aber erschreckend kämpferisch äußerte, wenn sie sich einmal aus ihrer Deckung hervorwagte. Damit machte sich die junge Alissa nur wenige Freundinnen. Dazu kam die offene Diskriminierung, mit der die jüdische Familie zu kämpfen hatte.

Doch es sollte weit schlimmer kommen. Als 1917 der russische Zar gestürzt war, griff Lenin gewaltsam nach der Macht und initiierte unter anderem einen Klassenkampf gegen die Mittelschicht. Die Apotheke von Rands Vater wurde von den Bolschewiken geschlossen, die Familie enteignet. Rand, ihre Eltern und ihre zwei Schwestern flohen vor den Revolutionären auf die Halbinsel Krim. Doch schon bald war auch diese in der Hand der Bolschewiken, und die Rosenbaums kehrten zurück ins entvölkerte Sankt Petersburg. Dort bewohnten sie ein kleines Zimmer ihrer einstigen Wohnung, litten Hunger und waren als Juden und einstige Besitzende doppelt benachteiligt. Dass Rand überhaupt studieren konnte – Geschichte und Philosophie -, verdankte sie einigen Glücksfällen.

Kleine Fluchten aus dem tristen Leben ermöglichten Bücher von Victor Hugo, die Operette und vor allem Stummfilme aus Deutschland und Amerika. Obgleich die Herrschenden sie klassenkämpferisch untertitelten, fand Rand in ihnen die Welt, in der sie leben wollte. Sie träumte davon, nach Amerika auszuwandern, obgleich das damals kaum möglich war. Doch im Jahr 1925 erhielt sie wider Erwarten die Genehmigung, ihre Verwandten in Chicago zu besuchen.

Bei ihrer Ankunft besaß Rand ein Visum für sechs Monate. Doch sie hatte nicht vor, jemals nach Russland zurückzukehren. Sie zeigte sich irritiert darüber, wie gerne die Amerikaner lachten und wie wenig ernsthaft sie waren. Rand hatte ehrgeizige Pläne. Sie wollte Drehbuchschreiberin werden. Sie hatte zwar damals gerade Geld genug, um es bis zu ihren Verwandten nach Chicago zu schaffen. Doch sie wollte nach Hollywood. Und wie beinahe immer, wenn sie etwas wollte, gelang es ihr.

In Hollywood lernte sie schon während der ersten Tage den berühmten Regisseur Cecil B. DeMille kennen, der sie in den kommenden Jahren unterstützte. Und sie traf auf Frank O’Connor, einen jungen, schönen Schauspieler, in dem sie all ihre Ideale eines heldenhaften Mannes widergespiegelt sah. Sie sprach ihn an, verfolgte ihn. Wenig später sollte er ihr Liebhaber werden, danach ihr Mann. “Ich habe ihn wegen seiner Schönheit geheiratet”, sagte sie nach der Hochzeit. Doch war die Heirat vor allem deshalb notwendig, weil Rands Visum zum wiederholten Mal auslief. O’Connor war ihr erster Unterstützer und sollte es bis zu seinem Lebensende bleiben. Er arbeitete zwar zunächst noch als Schauspieler, später aber ordnete er sein Leben ihren Zielen unter.

Zunächst aber war Rand immer noch eine unbekannte russische Immigrantin. Sie schrieb an ihrem ersten Buch, doch die Weltwirtschaftskrise führte bald dazu, dass sie mit simpleren Jobs ihren Lebensunterhalt verdiente. Ihr erstes Theaterstück feierte bescheidene Erfolge, als sie beschloss, nach New York zu ziehen. Dort nahm ihre Karriere Fahrt auf. Ihr erster Roman “We the Living”, der im nachrevolutionären Russland spielte, erschien 1936 und verkaufte sich gut für eine völlig unbekannte Autorin. Doch erst der 754-Seiten-Roman “The Fountainhead”, der später mit Gary Cooper verfilmt wurde, machte sie mit Ende 30 berühmt.

Der Held ist ein Architekt, der wegen seiner revolutionären Ideen für eine neue Architektur von seinen Lehrmeistern abgestraft wird. Doch er setzt sich gegen die Widerstände mit dem Entwurf für einen Wolkenkratzer durch – nur um am Schluss zu sehen, dass seine Entwürfe verändert wurden, woraufhin er das Hochhaus sprengt. Er wird verhaftet, angeklagt, aber nicht für schuldig befunden. Am Ende wird ein Hochhaus nach seinem Plan gebaut. Parallel dazu entwirft Rand eine melodramatische Dreiecks-Liebesgeschichte, die wohl den großen Erfolg des Werks als Buch und als Film teilweise erklärt.

Doch in “The Fountainhead” geht es eigentlich nicht um Liebe oder Architektur, sondern um Ideen. Das Werk ist ein Loblied auf das selbstbestimmte Individuum und ein Plädoyer für Egoismus und Arroganz – zwei Charaktereigenschaften, die auch Rand selbst aufwies. Über ihre Jugendliebe soll sie sogar gesagt haben: “Was ich an ihm am meisten mochte, war seine Arroganz.” Diese Umdeutung negativ behafteter Eigenschaften ins Positive sorgte für Gesprächsstoff.

Als Plädoyer für den Kampf des Individuums gegen kollektivistische Mächte war “The Fountainhead” aber auch antikommunistisch, was gut in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg passte, da Amerika sich von Russland distanzierte. Schon bald wurde sie zu einer Ikone der Antikommunisten und zum Feindbild linker Intellektueller. Dazu trug bei, dass sie im Jahr 1947 vor dem Komitee für unamerikanische Umtriebe aussagte, als es die amerikanische Filmindustrie auf kommunistische Aktivitäten untersuchte.

Sie denunzierte keine Kollegen, aber sie erklärte, in einem Film kommunistische Propaganda zu erkennen, die nicht mit dem Leben in Russland übereinstimmte. Sie sollte nie öffentlich bedauern, damit zum Karriereende einiger Künstler beigetragen zu haben.

In der Folge wurde Rand immer mehr zur Philosophin. Sie entwickelte die radikalliberale Theorie des Objektivismus, die für einen rationalen Egoismus plädierte. Das drückte sich auch in politischen Vorstellungen aus. So lehnte Rand soziale Akte, vor allem finanzielle Unterstützung von Armen, Alten und Kranken, durch den Staat ab. Sie befürwortete aber einen Minimalstaat, der Diebstahl und Mord als Verletzungen der individuellen Rechte sanktionierte.

Mit diesen Ideen scharte sie viele Bewunderer um sich, vor allem junge Männer. Einer von ihnen war Alan Greenspan, den sie wegen seines ökonomischen Könnens und seiner Begeisterung für ihren neuen Roman “Atlas Shrugged” schätzte und den “schlafenden Riesen” taufte. Ein anderer war der Psychologe Nathaniel Branden, mit dem sie eine 14 Jahre währende Affäre verbinden sollte. Sie endete dramatisch, als er sich in eine andere Frau verliebte. Später distanzierte Branden sich von Rand und äußerte sich kritisch über die Unmenschlichkeit des Objektivismus und Rands dominante, repressive Art.

Rand war zutiefst enttäuscht, ihr Schaffensdrang gebremst. Ihre Ideen aber sickerten in den siebziger Jahren langsam in die amerikanische Gesellschaft und Politik ein. In Amerika werden ihre Bücher bis heute gelesen, während man in Europa mit ihrem Plädoyer für radikalen Individualismus und den Rückzug des Staates aus allen Bereichen der Fürsorge wenig anfangen kann.

Mit ihrer Heimat Russland kam Rand nur noch einmal in Kontakt, als die letzte Überlebende ihrer Familie, ihre jüngste Schwester, sie in den siebziger Jahren aufspürte und sie in Amerika besuchen durfte. Nora fühlte sich jedoch nicht wohl in Rands Traumland Amerika und enttäuschte ihre Schwester, indem sie nach Russland zurückkehrte. Kurz darauf, im Jahr 1979, starb Rands Mann Frank. Ayn Rand folgte ihm drei Jahre später.

Über Ayn Rand sind auf Amerikanisch zwei neue Biographien erschienen: Anne C. Heller: “Ayn Rand And The World She Made”, Verlag Nan A. Talese, circa 23,50 Euro. Jennifer Burns: “Goddess Of The Market”, Oxford University Press, ca. 19 Euro.

Text: F.A.S.

http://www.faz.net/s/RubF3CE08B362D244869BE7984590CB6AC1/Doc~E3BB939CFA3AD4600B3C988120DED93E7~ATpl~Ecommon~Scontent.html

22
Oct
09

Die Zypern-Frage. Keine Lösung in Sicht

Zypern militerran

Mauerfall, Wiedervereinigung. In Deutschland wird derzeit wegen der anstehenden Jubiläen viel darüber gesprochen. Auch in Zypern ist davon ständig die Rede, doch hier ist beides vorerst nicht in Sicht. Oder gibt es einen Plan B?

von Ivo Bozic

Russische und französische Kampfhubschrauber begleiteten am Himmel in Formation die Parade von Soldaten, schweren Panzern und Boden-Luft-Raketen. Die Republik Zypern hatte ihren Nationalfeiertag bereits zwei Tage bevor in Deutschland am 3. Oktober der »Tag der Deutschen Einheit« begangen wurde. Anlässlich des Independence Day, dem 49. Jahrestag der Unabhängigkeit Zyperns, wurde am 1. Oktober in der Hauptstadt Nikosia jedoch statt läppischer Bürgerfeste und Fanmeilen eine zünftige Militärparade geboten.

Einen »Tag der Zyprischen Einheit« gibt es auf der Mittelmeerinsel allerdings nicht zu feiern. Und auch ein »Mauerfall«, wie er in Deutschland am 9. November bejubelt wird, ist nicht in Sicht. Die Mauer bzw. die Green Line quer durchs Land und auch quer durch die Hauptstadt markiert immer noch, seit nunmehr 35 Jahren, die Teilung der Insel.

Die Verhandlungen zwischen der griechischen Republik Zypern im Süden und dem seit 1974 von der Türkei besetzten nordzyprischen Teil verlaufen schleppend. Das Trennende scheint viel zu groß, unüberbrückbar. Schon beim Ziel der Verhandlungen und der Frage, was überhaupt die angestrebte Wiedervereinigung bedeuten soll, herrscht Dissens. Die griechisch-zyprischen Verhandler wollen eine Förderation mit einer relativ starken Zentralregierung, die türkischen peilen zwei autonome Teilstaaten mit einer schwachen Zentralregierung an. Und dennoch glauben hier viele an eine »Lösung«, und manche sogar daran, dass sie schnell erreichbar sei.

Dieser Eindruck entsteht auch, wenn man George Iacovou zuhört. Er ist Zyperns wichtigster Diplomat. Der heute 71jährige Sprecher des Präsidenten im Range eines Ministers war von 1983 bis 1993 und von 2003 bis 2006 Zyperns Außenminister und leitet nun die Verhandlungen. Wenn er in seinem kleinen Büro im Präsidentenpalast in Nikosia von den Gesprächen erzählt, dann scheint es nur noch an wenigen Punkten zu haken und ausschließlich an der türkisch-zyprischen Seite zu liegen, dass es nicht recht vorwärts geht.

Seit dem Putsch griechischer Obristen gegen den nach der Unabhängigkeitserklärung als Präsident regierenden Erzbischof Makarios III. und der folgenden Invasion der türkischen Armee im Jahr 1974 ist die Insel geteilt. Während die griechische Republik Zypern im Süden seit fünf Jahren sogar EU-Mitglied ist, wird die 1983 proklamierte Türkische Republik Nordzypern international von keinem Staat anerkannt. Außer von der Türkei. Sogar das Taliban-Regime hatte mehr Freunde. Die griechischen Zyprer nennen den Nordteil hinter der von der Uno bewachten Green Line demzufolge nur »die besetzten Gebiete«.

Konkret wird derzeit über sieben verschiedene Streitpunkte verhandelt, besonders brisant für die Zyperngriechen sind dabei vor allem die Fragen, wie die Eigentumsansprüche der aus dem Norden vertriebenen griechisch-zyprischen Flüchtlinge abgegolten werden sollen und was mit den vermutlich – es kursieren die unterschiedlichsten Zahlen – weit über 100 000 türkischen, meist aus Anatolien stammenden Menschen geschehen soll, die die Regierung in Ankara hier angesiedelt hat. Ein weiterer Punkt ist der Abzug der türkischen Truppen.

Doch bei all diesen Problemen will es nicht recht vorwärts gehen bei den Verhandlungen, empört sich George Iacovou. Von 40 Treffen in den vergangenen zwölf Monaten habe Mehmet Ali Talat, der Präsident der türkischen Zyprer, fast die Hälfte, nämlich genau 16, darauf verwendet, ein einziges Thema zu debattieren, und damit ein Fortschritt bei den anderen sechs verschleppt. Talats wichtigstes Anliegen ist das »Powersharing« in einer künftigen gemeinsamen Bundesregierung und die Frage, wie diese gewählt werden solle. Eine direkte Wahl ist problematisch, denn 80 Prozent der Zy­prer leben im Süden und sind griechische, 20 Prozent sind türkische im Norden. Die türkisch-zypri­sche Seite lehnt eine direkte Wahl daher ab, doch die griechischen Zyprer bestehen darauf, ein Modell zu finden, das eine direkte gemeinsame Wahl einer Bundesregierung ermöglichte.

Iacovou sieht die Verantwortung bei den anderen. Die griechisch-zyprische Seite habe eine Rotation der Präsidentschaft vorgeschlagen, die jeweils vier Jahre an die griechischen und zwei Jahre an die türkischen Zyprer gehen soll. Damit hätten die tür­kischen Zyprer 33 Prozent der Zeit die Präsidentschaft inne, rechnet Iacovou vor, obwohl ihr Anteil an der Bevölkerung nur eins zu vier entspreche. »Nicht einmal ein Dankeschön« habe man für diesen großzügigen Vorschlag erhalten, sagt er.

Man merkt dem alten Mann an, dass für ihn eigentlich jedes Angebot schon eine gewisse Zumutung bedeutet. Schließlich verhandeln da aus seiner Sicht, und so sehen es die meisten griechischen Zyprer, nicht zwei Staaten, zwei Republiken miteinander, sondern die Regierung der Republik Zypern und ein von der Türkei gesteuertes Besatzungsregime. Für ihn ist es schon ein großes Zugeständnis, dass überhaupt mit der nordzypri­schen Marionettenregierung auf Augenhöhe verhandelt wird.

Fast könnte man meinen, dass die Südzyprer am liebsten wieder ein System hätten, dass der Verfassung von 1960 gemäß funktioniert. Danach entfallen 56 Sitze des Parlaments an griechische und 24 an türkische Zyprer. Die 24 türkischen Sitze bleiben seit 1974 unbesetzt. Damals wählten die griechischen Zyprer den Präsidenten, und die türkischen den Vizepräsidenten, doch Iacovou lehnt dies ab, denn das habe nur zu Konflikten und einen Kampf um Einfluss geführt – und wohl auch zum Bürgerkrieg 1963/64. Darum will er keine separaten Wahlen, sondern gemeinsame. Man verhandle schließlich um das Gemeinsame und nicht um das Trennende.

Die Bevölkerung auf der Insel, sagt Iacovou, sei immer gemischt gewesen, es habe nie so etwas wie einen türkischen Teil Zyperns gegeben – bis zur Invasion 1974 und der damit einhergehenden Vertreibung der griechisch-zyprischen Bewohner aus dem Norden und der Übersiedlung der türkisch-zyprischen Bevölkerung aus dem Süden in den besetzten Gebieten. Dass auch die meisten türkischen Zyprer aus dem Süden fliehen mussten und es Massaker an türkischen Zyprern gab, kommt in seiner historischen Erzählung nicht vor.

»Die griechisch-zyprische Community macht 80 Prozent der Bevölkerung aus und die türkisch-zyprische 20 Prozent. Das ist eine Tatsache, die sich nie verändert hat und die sich nie verändern kann«, sagt er trotzig. »Wenn wir also heute über konstitutionelle Dinge reden, müssen wir dies, neben anderen Dingen natürlich, immer berücksichtigen.« Tatsächlich aber versucht die türkische Regierung durch ihre Siedlungspolitik, genau diese von Iacovou postulierte demografische »Tatsache« sehr wohl zu verändern.

Natürlich weiß das auch der Diplomat und klagt, die Türkei »importiere« massenhaft Siedler und zahle jedes Jahr fast eine Milliarde US-Dollar an Nordzypern, außerdem befänden sich 40 000 schwer bewaffnete türkische Soldaten mit 350 schweren Kampfpanzern auf der Insel. Die Türkei sei also in jeder Hinsicht überrepräsentiert auf Zypern, zumal die türkischen Zyprer vermehrt das Land verließen. Tatsächlich sind die Nordzyprer nicht allesamt Parteigänger des türkischen Staats.

Es gibt in Nordzypern sogar eine Partei, »Yasemin«, die explizit nicht die Interessen der Türkei vertritt und den sofortigen Abzug der Besatzungstruppen und auch die Rückführung der meisten Neusiedler fordert. Gründer der Partei ist Sener Levent, der auch die oppositionelle Zeitung Afrika herausgibt und ständig mit Morddrohungen leben muss. Er sagte dem Journalisten-Netzwerk n-ost: »Selbst wenn Talat und Christofias (Dimitris Christofias ist der Präsident der Republik Zypern, d. Verf.) sich auf eine Lösung einigen sollten, wird wieder ein Referendum eingeleitet. Und das Ergebnis wird dasselbe sein wie 2004: Eine Seite wird ›Ja‹ sagen, die andere ›Nein‹. Wenn man den Konflikt wirklich lösen will, darf man kein Referendum machen.« Der Schlüssel für die Beilegung des Konfliktes liege bei den USA und Großbritannien, die aber seien mit der aktuellen Situation ganz zufrieden.

Viele verstehen nicht, wieso die griechischen Zyprer, wenn sie doch angeblich so sehr an einer Lösung interessiert sind, 2004 den von der Uno initiierten »Annan-Plan« in einem Referendum ablehnten, während ihn die türkischen Zyprer mit großer Mehrheit annahmen. Und wenn man Iacovou bittet, dies zu erklären, wirkt der sonst sehr ruhige und gelassene Mann ein klein wenig genervt. »Es gab nicht einen, es gab fünf Annan-Pläne«, sagt er. Die türkischen Zyprer hätten alle abgelehnt, und um die türkische Seite zufriedenzustellen, seien die Lösungsmodelle aus Sicht der griechischen Zyprer von Mal zu Mal schlechter geworden. »Es ist also sehr unfair zu sagen, dass es an der Ablehnung dieses letzten Plans durch die griechischen Zyprer liegt, dass es bisher nicht zu einer Lösung gekommen ist.«

Tatsächlich war der Annan-Plan, der 2004 zur Abstimmung stand, unter großem Zeitdruck ­zustande gekommen. Denn es stand die Entscheidung über die EU-Mitgliedschaft des Inselstaats an. Am 24. März 2004 scheiterte das Referendum, acht Tage später wurde die Republik Zypern Mitglied der EU. Und auch jetzt spielt eine potentielle EU-Mitgliedschaft womöglich wieder eine Rolle: die der Türkei.

Derzeit ist die Zypern-Frage der Knackpunkt der türkischen EU-Verhandlungen. Die Türkei soll, verlangt die EU, ein »Anpassungsprotokoll« zur Zollunion, auch »Ankara-Protokoll« genannt, vollständig und nicht diskriminierend umsetzen. Dieses Protokoll weitet die Zollunion auf die zehn neuen Mitgliedstaaten, einschließlich Zyperns, aus und bedeutet, dass die Türkei ihre Häfen und Flughäfen für den Schiffs- und Flugverkehr der Republik Zypern öffnen muss. Dies käme indirekt einer Anerkennung der griechisch-zyprischen Regierung gleich. Deswegen sträubt sich die Regierung in Ankara dagegen. Bis Mitte Dezember jedoch muss die Türkei das Protokoll umsetzen, sonst drohen die Beitrittsverhandlungen zur EU zu platzen.

»Das ist das Problem Ankaras, nicht unseres«, sagt Iacovou trocken. Er befürwortet vehement einen EU-Beitritt der Türkei, weil er sich dadurch auch eine Lösung der Zypern-Frage verspricht, aber eine schnelle, unter Zeitdruck entstehende »schlechte Lösung« wie 2004 möchte er nicht.

Danach befragt, ob nicht auch eine Zweistaatenlösung denkbar sei, da sich offenbar immer mehr Zyprer mit dem Status quo abzufinden scheinen, sagt er deutlich »Nein«, und zwar wegen der Flüchtlinge. Zwar gebe es »Leute, die meinen, keine Lösung sei auch eine Lösung«, er aber halte denen entgegen: »Keine Lösung ist die allerschlech­teste Lösung.« Anders als oft unterstellt, habe man jedoch »keinen Plan B«, man werde so lange verhandeln, bis es eine Lösung gebe. Irgendwie klingt das nur so halb glaubhaft, erst recht, wenn er hinzufügt, dass eine Lösung noch in diesem Jahr realistisch sei – wenn nur die andere Seite sich endlich bewegen würde. Was solche Schuldzuweisungen an die jeweils anderen betrifft, da jedenfalls sind sich die Verhandlungsführer beider Seiten völlig einig.

Dass es einen Plan B gebe, wird derweil auch aus angeblich diplomatischen Quellen in Athen kolportiert. Der gerade neu gewählte sozialdemokratische Premier- und Außenminister Griechenlands, Giorgos Papandreou, ist am Freitag voriger Woche nach Istanbul gereist, um mit dem türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan über Zypern zu reden – nach Medienberichten zur Verhandlung eines Alternativplans, was Papan­dreou heftig dementierte. Dass er aber nur fünf Tage nach seiner Wahl mit der Türkei redet, ist zumindest ein Symbol dafür, dass sich die neue Regierung in Griechenland künftig wohl mehr in die Verhandlungen einmischen wird.

Quelle: Ivo Bozic: Die Zypern-Frage.  Keine Lösung in Sicht in Jungle World 42/09

29
Sep
09

Zeit für die Entzauberung der SED,PDS,Linkspartei

Verdrängte Parteigeschichte

Plädoyer für eine Entzauberung der Linkspartei

14790074

DPA

Mit dem neuen Namen hat sich die Linke vom politischen “Schmuddelkind” zum potentiellen Partner der SPD gewandelt. Leider, bemängelt der Politologe Gerd Langguth, gerät dabei die Vergangenheit der ehemaligen DDR-Staatspartei in Vergessenheit.

Was hat die Adresse des Thüringer Landtages mit der Linkspartei zu tun? Nichts, müsste man meinen. Durch Beschluss von CDU und SPD wurde die Straße des neuen Haupteinganges 2002 in “Jürgen-Fuchs-Straße” benannt – nach dem Schriftsteller und mutigen, an einem Krebsleiden verstorbenen Bürgerrechtler, der vermutlich während eines Gefängnisaufenthaltes von der Staatssicherheit der DDR “verstrahlt” wurde.

Als einzige Fraktion lehnte es die Linke ab, auf ihren Briefköpfen und im Internet die “Jürgen-Fuchs-Straße 1” anzugeben. In einer gewundenen Erklärung schreibt der Thüringer Spitzenmann der Linken, Bodo Ramelow, warum seine Fraktion weiterhin die einstige Adresse “Arnstädter Straße 51” benutzt. Symbolhaft beleuchtet das den Umgang der Thüringer Linken-Mitglieder mit dem undemokratischen, totalitären System der einstigen DDR.

Fast alle führenden Bundesgrößen der SPD lehnten bis vor kurzem eine Zusammenarbeit mit den Linken ab. Diese Front scheint jetzt rapide zu bröckeln. Franz Müntefering und Frank-Walter Steinmeier werden zwar nicht müde, zumindest für die gesamte kommende Legislaturperiode eine Zusammenarbeit auszuschließen. Aber auch Müntefering wird schon vorsichtiger. Er erteilte zwar in der ARD am 1. September 2009 einer möglichen Zusammenarbeit mit den Linken “2009 und folgende” im Bund eine Absage, aber das sei “keine Aussage für die Ewigkeit”.

Zum gleichen Zeitpunkt werden aber erstmals in einem westdeutschen Bundesland Koalitionsverhandlungen geführt. Der saarländische SPD-Landeschef Heiko Maas, der einst darauf hinwies, die Linke müsse sich stark ändern, hatte allerdings vor den Wahlen eine Zusammenarbeit mit der Partei nicht ausgeschlossen und unterscheidet sich damit von der hessischen Wortbruch- Ypsilanti.

Zeugen der DDR-Diktatur mit Verantwortung

Es ist jedoch irritierend, wenn auf Bundesebene die SPD-Vormänner die Linken als unzuverlässig brandmarken, zugleich aber erklären, die einzelnen SPD-Landesparteien müssten ihre Koalitionsentscheidungen in eigener Regie treffen – als ob das die Politik der Bundesebene nicht berührte. So wird insbesondere die Einstellung der Linken von der SPD-Bundesführung in Sachen Europapolitik als Begründung dafür genannt, warum eine Zusammenarbeit auf Bundesebene nicht möglich sei.

Doch bleibt die SPD dann eine Erklärung schuldig, wie sie dieses Argument mit den Vorgaben des Grundgesetzes in Verbindung bringt, dass die Bundesländer über den Bundesrat an allen sie betreffenden Fragen der Bundespolitik mitwirken. Insbesondere hat das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts den Ländern zusätzliche Mitwirkungsrechte zugestanden. Bundesländer können also sehr wohl die Bundespolitik beeinflussen. Die fatale Auswirkung zeigte sich, als das rot-rot regierte Berlin als einziges Bundesland dem Lissabon-Vertrag seine Zustimmung verweigerte.

Mehr und mehr wird so getan, als sei die Linke schon eine neue “normale”, demokratiefähige Partei. Wahr ist sicherlich, dass es innerhalb der Linken jüngere Funktionsträger gibt, die nicht mit Mauer und Stacheldraht der einstigen DDR in Verbindung zu bringen sind. Aber es gibt auch viele Zeugen der DDR-Diktatur in dieser Partei wie Gysi und Bisky, die auch in dem kommunistischen System Verantwortung trugen.

Vergessen ist, dass der Bundestagsausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung am 8. Mai 1998 “zu der Überzeugung” gekommen war, “dass Dr. Gysi in der Zeit von 1975 bis 1989 in verschiedenen Erfassungsverhältnissen beim Ministerium für Staatssicherheit (MfS) aktiv erfasst war”. Der Ausschuss hat mit der Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder “eine inoffizielle Tätigkeit” von Gysi “als erwiesen festgestellt”. Gysi hingegen erklärte, dass er “zu keinem Zeitpunkt inoffiziell mit dem MfS zusammengearbeitet” hatte, eine Verpflichtungserklärung gäbe es deshalb auch nicht.

Neuer Name, vergessene Parteigeschichte

Viele SPD-Politiker erliegen dem Werben der Linken mit dem Argument, es gebe ja in vielen tagespolitischen Fragen (etwa beim Mindestlohn, in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik) viele Gemeinsamkeiten. Trennendes könne durch eine solche Aktionseinheit “gegen rechts” – oder wie auch immer diese Metaphern genannt werden – überwunden werden. Geschickt entziehen sich die dunkelroten Genossen der Aufarbeitung ihrer eigenen Parteigeschichte, und sie werden politisch “salonfähig” gemacht.

Gysi, Bisky und seine Genossen können sich glücklich schätzen, dass die einstige PDS durch den Beitritt der SPD-Absplitterung “Wahlinitiative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit ( WASG)” nicht nur einen westdeutschen Bruder bekommen hat, sondern sich die Frage nach der geschichtlichen Verantwortung der einstigen PDS sehr viel leichter relativieren lässt. Rechtlich und politisch ist die Linke nichts anderes als eine umgewandelte SED.

Erinnern wir uns: Der beredte Gregor Gysi war noch in den Wirren des DDR-Zusammenbruchs Vorsitzender der einstigen DDR-Staatspartei, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), geworden – und zwar am 9. Dezember 1989. Er rettete mit allen juristischen Tricks viel von dem ungeheuren Parteivermögen, von dem viele vermuten, dass manches auch in dunkle Kanäle floss. Bald danach wurde der reinen SED der Schrägstrich “Partei des Demokratischen Sozialismus” hinzugefügt, im Februar 1990 wurde die Bezeichnung “SED” endgültig über Bord geworfen.

Bis 2005 hatten wir es dann mit der PDS zu tun, die sich ab Juli 2005 nach einer weiteren Namensmutation als “Linkspartei.PDS” bezeichnete. Im Juni 2007 kam es dann zum Beitritt der WASG zur Linkspartei. Hinter den Verwirrung stiftenden Namensänderungen steckt die Suggestion: Hier ist eine “neue” Partei entstanden, die sich aus dem diktatorischen Sumpf der DDR befreit hat.

2. Teil: Verstrickt ins totalitäre System

Bei diesem Prozess ist der Linken in fast bewundernswerter Weise ein Kunststück gelungen: Sie machte nämlich vergessen – und andere ließen es zu -, dass die Staatsicherheit das “Schild und Schwert” der Partei war, die totalitäre Durchdringung der DDR-Gesellschaft also ein Parteiauftrag war. Stasi und SED waren eine Einheit. Die PDS tat jedoch bald so, als hätte sie als Partei mit der Staatssicherheit unmittelbar gar nichts zu tun.

Trotzdem passiert es immer wieder, dass ehemalige Stasi-Angehörige für die Linkspartei arbeiten – wie der SPIEGEL jetzt aufdeckte. Dazu zählt auch eine Mitarbeiterin in unmittelbarer Nähe des Spitzenmannes Bodo Ramelow. Es wird jetzt beschönigend behauptet, sie sei nur für Übersetzungsarbeiten bei der Stasi eingesetzt worden. Die Grünen in Thüringen kritisierten, dass zwei der Thüringer Abgeordneten der Linkspartei einer Stasi-Zusammenarbeit bezichtigt werden können. Aber immer weniger Menschen regen sich über solche Verstrickungen mit einem totalitären System auf.

Hat sich die Linkspartei aber tatsächlich aus dem kommunistischen Sumpf der DDR befreit? Vor der Vereinigung mit der WASG hieß es im Programm der Linkspartei: “Die antifaschistisch-demokratischen Veränderungen im Osten Deutschlands und das spätere Bestreben, eine sozialistische Gesellschaft zu gestalten, standen in berechtigtem Gegensatz zur Weiterführung des Kapitalismus in Westdeutschland.”

Der DDR werden unter anderem “bemerkenswerte Ergebnisse und wertvolle Erfahrungen im Kampf um soziale Gerechtigkeit” attestiert, worauf Sahra Wagenknecht, Vertreterin der Kommunistischen Plattform in der Linkspartei, nicht müde wird hinzuweisen. Sie rechtfertigt damit die Existenz der kommunistischen DDR als Gegenentwurf zur Bundesrepublik Deutschland. In ihrem Eckpunktepapier verurteilt die Linke nicht den Kommunismus als solchen, den real existierenden Sozialismus in der DDR, sondern lediglich den “Stalinismus als verbrecherischen Missbrauch des Sozialismus”.

Ihre DDR war kein “Unrechtsstaat”

Und was bedeutet es eigentlich konkret, wenn in den “Eckpunkten” der Linken, aber auch in manchen Reden, manchmal offen, manchmal verklausuliert, die “Systemfrage” für Deutschland gestellt wird. Wie konkret eine von der Linken erstrebte neue politische Ordnung ausschauen soll, das wird verschwiegen.

Die Funktionäre der Linken weigern sich, die DDR als einen “Unrechtsstaat” zu bezeichnen. Als sich im Februar der Linke-Spitzenkandidat für die Landtagswahl in Thüringen, Ramelow, in der “Südthüringer Zeitung” äußerte, die DDR wäre kein Unrechtsstaat gewesen und es hätte keine Schießbefehle gegeben, erklärte der SPD-Politiker Christoph Matschie: “Bodo Ramelow verhöhnt mit seiner DDR-Propaganda all diejenigen, die der Willkür der DDR-Regierung ausgesetzt waren. Wer sich weigert, die DDR als Unrechtsstaat zu benennen, rechtfertigt im Nachhinein Mauer, Bevormundung und staatliche Willkür.” Matschie forderte Ramelow auf, sich für seine Ausführungen zu entschuldigen. Derselbe Matschie verhandelt jetzt mit ihm über eine gemeinsame Regierung in Thüringen.

Wie wenig kritisch sich die Linke mit Mauer und Stacheldraht auseinandersetzte, zeigt, dass noch 1999 das PDS-Vorstandsmitglied Michael Benjamin in der “Bild am Sonntag” vom 24. Januar sagte, die 1961 errichtete Berliner Mauer sei “eine völkerrechtlich zulässige und zum damaligen Zeitpunkt angemessene Maßnahme” gewesen. Der damalige stellvertretende Parteivorsitzende der Linken, Peter Porsch, sagte zwei Jahre darauf: “Die Mauer hat 1961 den Frieden in Europa und der Welt erhalten. Niemandem wäre damit geholfen, wenn wir uns für die Mauer entschuldigten.”

Auch wenn eine solche Äußerung offiziell Distanzierung bei einigen PDS-Funktionären auslöste, lehnte die damalige PDS-Vorsitzende Gabi Zimmer es ab, sich für den Bau der Berliner Mauer zu entschuldigen, mit solchen Ritualen sei nichts geklärt. “Es geht nicht darum, Abbitte zu leisten.” Selbst der rhetorisch versierte Lothar Bisky hielt es im August 2007 immer noch nicht für “belegt, dass es einen generellen Schießbefehl gab”.

3. Teil: Freundliche Worte für Diktatoren

Sahra Wagenknecht weiß auf die Vorhaltung, in der DDR habe es keine Meinungsfreiheit gegeben, sondern Zensur der Presse und das Verbot vieler Bücher, nichts anderes zu antworten als: “Es gab in der DDR eine große Breite der Publikationen, die aber bei der breiten Masse leider nicht immer in vollem Umfang zur Verfügung standen”, ist in “Cicero” zu lesen. “Ich weiß das, weil ich damals als Bibliothekar arbeitete. Sagen wir es mal so: In der DDR brauchte man Kontakte, um an alle Bücher heranzukommen, heute braucht man dafür Geld. Und das hat auch nicht jeder.”

Es fällt auf, dass die Linke-Funktionäre einen Hang dazu haben, linkspopulistische Regime schönzureden, etwa das System des Neo-Sozialisten Hugo Chávez in Venezuela. Einer Diktatur vom Schlage Fidel Castros in Kuba werden durch Lafontaine sogar freundlich Wirtschaftserfolge attestiert. Nach Lafontaines Überzeugung würden manche in Deutschland die “Menschenrechtsfrage wichtigtuerisch instrumentalisieren”.

Die Tatsache, dass fast die Hälfte des Bundeshaushaltes für soziale Aufgaben verwandt wird, auch das wird bei den zahlreichen sozialpolitischen Forderungen der Linken verschwiegen. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Peter Struck hat ausrechnen lassen, dass die Realisierung der Pläne der Linken jährlich gigantische 154,7 Milliarden Euro kosten würde – das allein ist mehr als die Hälfte des Haushalts der Bundesrepublik Deutschland.

Die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung ist voller Spaltungen. Selbst Willy Brandt verließ 1931 die SPD und schloss sich der “Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD)” an. Es ist sicher legitim, dass die SPD darüber nachdenkt, wie sie in ihrer klassischen Wählerklientel verlorenes Terrain zurückgewinnen kann. Das SPD-Dilemma aber ist: Wenn sie sich mit einer Partei verbündet, deren geschichtliche Aufarbeitung verdrängt wird, wird sie selber an Glaubwürdigkeit verlieren.

Auch die Union arbeitet gegen das Tabu

Aber auch die Union ist in die Reihe der Schweiger eingetreten, wenn es um die Entzauberung der Linken geht. Die CDU hält sich nämlich bezüglich der konkreten Rolle der SED/PDS/Linke erstaunlich bedeckt. Offensichtlich wollen sich Angela Merkel und Ronald Pofalla nicht dem Vorwurf einer erneuten “Roten-Socken-Kampagne” aussetzen, mit der der frühere CDU-Generalsekretär Peter Hintze 1994 Helmut Kohl gerade noch einmal einen knappen Sieg bei den Bundestagswahlen verschafft hatte.

Vielleicht hat die Union die Befürchtung, eine intensivere Beschäftigung mit der SED-Diktatur könnte zu viele Ex-DDR-Bürger in die Arme der Linken treiben – immerhin gab es zeitweise weit über zwei Millionen SED-Mitglieder. Möglicherweise fürchtet die Union auch die Hinweise auf die Zusammenarbeit der CDU mit der Linken in einigen Kommunen in Ostdeutschland. Zu bedenken ist auch, dass die CDU mit starken politischen Angriffen auf die Linke die SPD ein Stück weit politisch entlasten würde. Aber gerade dies wird sie in Wahlkampfzeiten nicht wollen. Ist der CDU eine Schwächung der SPD lieber als eine Schwächung der Linken?

Letztlich leistet auch die Union einen Beitrag zur Enttabuisierung einer Zusammenarbeit mit der Linken.  SPON

ZUM AUTOR

14289201

DPA

Gerd Langguth, Jahrgang 1946, unterrichtet Politische Wissenschaft an der Universität Bonn. Er ist ehemaliges Mitglied des Bundestages und des CDU-Parteivorstandes. Von 1988 bis 1993 leitete er die Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland.

27
Sep
09

Francesco Rosi und Lino Ventura

Im Schatten schwerer Lider

Er prägte die große Ära des französischen Thrillers: Am 14. Juli wäre Lino Ventura 90 Jahre alt geworden.

von Uli Krug

Er gehörte zu der Kategorie Schauspie­ler »Einmal gesehen, nie vergessen«: Lino Ventura, der Mann mit dem kantigen Kinn, der offenbar schon des Öfteren ramponierten Nase und den ebenso stur wie melancholisch blickenden Augen, die stets im Schatten schwerer Lider lagen. Er war der Dunkelste aus dem Dreigestirn »hässlicher Franzosen« (wie sie in Italien halb spöttisch, halb bewundernd genannt wurden), die die große Ära des französischen Thrillers in den sechziger Jahren prägten: Dabei konnten die anderen zwei auch gern mal den lustigen August geben, Jean-Paul Belmondo mit jungenhaftem Womanizer-Charme, Michel Constantine mit Slapstick-Dackelblick und exorbitanten Segelohren. Der Dritte im Bunde hin­gegen, Lino Ventura, der am 14. Juli 90 Jahre alt geworden wäre, blieb immer Lino Ventura – egal ob als wortkarger Kommissar im Trenchcoat, als ebenso trocken agierender Gangster mit Pistole unter dem Jackett oder sogar als Detektiv im Priester-Ornat – wie in dem in mancher Filmografie verschwiegenen und doch äußerst sehenswerten »Dampfhammer Gottes« von Duc­cio Tessari (1974). Und wenn der Mann mit dem vom Leben und von Schlägen gezeichneten Gesicht dann mal Humor zeigte, fiel der subtil, spröde und gallig aus, wie in den schwarzen Ko­mödien »Nimm’s leicht, nimm Dynamit« (1965) oder »Die Filzlaus« (1973).

Auch Venturas heller und leichter angelegte Charaktere passten nahtlos ins Bild unbeugsamer Entschlossenheit, mit der seine Kommissare – und auch Gangster – Verrat und Korruption verfolgten. Vorzugsweise übrigens in den eigenen Reihen, im eigenen Milieu, einzig und allein einer fast schon altmodisch wirkenden Mo­ral verpflichtet: dabei nachsichtig mit Schwächeren, schonungslos aber gegen sich selbst, was nicht selten dazu führte, dass Venturas Filmfigu­ren den Abspann nicht lebend erreichten und als zwar nicht isolierte, aber doch einsame Strei­ter starben. Lino Ventura zeigte dabei die Intelligenz und Humanität der von ihm dargestell­ten Kämpfernaturen nie durch große Posen und schon gar nicht mit langen Reden, sondern deutete sie durch kleine Gesten oder kurze Bewegungen der ansonsten strichgeraden Lippen an.

Um diesen Typus glaubwürdig zu geben, muss­te sich Angiolino Giuseppe Pasquale Borrini, wie der im italienischen Parma geborene und im Alter von zehn Jahren nach Frankreich gekommene Ventura eigentlich hieß, nicht verstel­len: Sein privater Wertekodex glich dem seiner Filmfiguren. Er galt als äußerst loyal gegenüber seinen Freunden und auch gegenüber seiner Frau Odette, mit der er über vierzig Jahre verhei­ratet war, ohne dass die Ehe je irgendwelchen Stoff für Klatschgeschichten geliefert hätte. Politisch war Ventura das, was man später einen Neocon genannt hätte: Klar pro-westlich und klar antifaschistisch eingestellt, brachte er seine Überzeugungen auch in mancher Rolle direkt auf die Leinwand: als Profi-Killer, der eine süd­amerikanische Revolution als bloßen Theaterdonner eines Militärputsches entlarvt (»Im Dreck verreckt«, 1968), als Résistance-Kämpfer, der einen Wehrmachts-Kollaborateur in den eigenen Reihen enttarnt (»Armee im Schatten«, 1969) oder als unbestechlicher Kommissar Rogas, der sterben muss, weil er auf eine neofaschistische Verschwörung im italienischen Staatsapparat stößt (»Die Macht und ihr Preis«, 1976).

Und auch die private Vorgeschichte des späte­ren Schauspielers hätte gut und gerne die einer seiner typischen Filmfiguren sein können: die des Wüsten-LKW-Fahrers Hervé beispielsweise, dem Ventura im Film »100 000 Dollar in der Sonne« (1963) sein Gesicht gab. Denn er war kein Absolvent einer Schauspielerakademie, sondern verdiente sein Geld als Show-Catcher, bevor er 1953 seine erste Filmrolle bekam. Ventura absol­vierte ohne vorherige Schauspiel­erfahrung einen Auftritt als schweigsamer Unterweltler im Krimidrama »Wenn es Nacht wird in Paris« mit Jean Gabin und Jeanne Moreau. Gabin, der ein Faible für Boxer und Dickköpfe hatte, förderte Ventura in den nächsten Jahren. Schnell zeigte sich, dass gerade die sparsamen schauspielerischen Mittel Venturas besonders wir­kungs­voll waren: Regisseure wie Jean-Pierre Mel­ville, Henry Verneuil, Louis Malle oder Francesco Rosi rissen sich schließlich darum, mit dem kantigen Italo-Franzosen Ventura zu drehen. Der avancierte im Laufe seiner Karriere zum vielleicht beliebtesten Schauspieler Frankreichs, zu einer nationalen Ikone gleich seinem alten Förderer Jean Gabin. Als der 68jährige Lino Ventura schließlich 1987 an den Folgen eines Herzanfalls starb, folgten Tausende dem Trauerzug durch die Straßen von Paris.

Eine Hommage zum 90. läuft im Sommerkino bei Arte. Leider steht auf der ansonsten gut zusammengestellten Sendeliste nicht Venturas in Deutschlands Kinos erfolgreichster Film. Dessen Titel »Adieu, Bulle« (1975) aber würde am besten zum Gefühl der Wehmut passen, das einen beschleicht, weil für einen wie Ventura im zeitgenössischen Kino wohl keine rechte Verwendung mehr wäre: zu stur, zu unprätentiös, zu altmodisch. Genau das aber macht auch heute noch den Reiz Lino Venturas aus: Er ist ein großartiges Erbstück aus einer anderen Zeit.
jungle World Nr. 5, 31. Januar 2008
http://jungle-world.com/artikel/2008/05/21094.html

Passione Civile

Die Berlinale ehrt den italienischen Regisseur Francesco Rosi.

von Uli Krug

*

Die gute Nachricht gleich vorweg: Am 16. Februar bringt der Bayerische Rundfunk anlässlich der Tatsache, dass die diesjährige Berlinale dem italienischen Regisseur Francesco Rosi die Hommage widmet und den Goldenen Ehrenbären verleiht, zwei der besten Filme des mittlerweile 85jährigen, und das sogar zur besten Sendezeit. Der BR zeigt »Lucky Luciano«, einen Mafia-Klassiker von 1974 mit dem unvergleichlich manischen Gian-Maria Volonté in der Hauptrolle, und den einst skandalträchtigen und immer noch atemberaubend spannenden »Die Macht und ihr Preis« von 1976, in dem Lino Ventura vom bärbeißigen Kommissar zum gehetzten Freiwild wird. Freunde beklemmend aufbereiteter Mord­intrigen und krimineller Verstrickungen sollten die Aufnahmegeräte also auf jeden Fall programmieren. In deutscher Synchronisation oder wenigstens mit Untertiteln sucht man beide Filme auf DVD nämlich vergeblich. Der BR bietet also eine ganz seltene Gelegenheit, Filme aus der Glanzzeit Rosis, den siebziger Jahren, die zugleich die letzte große Ära des italienischen Kinos war, überhaupt noch zu sehen zu bekommen.

Dass Rosi, der mit seiner passione civile, seiner »bürgerlichen Leidenschaft«, als der Prota­gonist der politisch engagierten Regisseure Italiens gilt, einmal so ins kommerzielle Abseits geraten könnte, wäre in jener Glanzzeit kaum vorstellbar gewesen. Denn der Schüler Luchino Viscontis aus Neapel hat den Neorealismus weiterentwickelt und war damals sowohl an den Kassen als auch auf Filmfestivals erfolgreich. Dabei gefielen den Kritikern insbesondere Rosis bis ins Kleinste, im Dokumentationsstil inszenierte Filme aus den Sechzigern: Mit dieser ganz eigenen Methode des film-inchiesta, also einer politischen Untersuchung im Kinoformat, nahm sich der Regisseur in »Hände über der Stadt« (Goldener Löwe, 1963) der mafiösen Verfilzungen der neapolitanischen Stadtentwicklung ebenso an wie in »Wer erschoss Salvatore G.?« (Silberner Bär, 1962) des Lebens und Sterbens des modernen sizilianischen Briganten Salvatore Giuliano.

Die letzte dieser scheindokumentarischen Analysen inszenierte Rosi 1972 mit dem Film »Der Fall Mattei« (Goldene Palme), den man heute nur noch versteht, wenn man sich den Grundwiderspruch Italiens während des Kalten Krieges ins Gedächtnis ruft: die vorpolitischen Zustände des Mezzogiorno, des italienischen Südens, der bis heute das bevorzugte Gebiet der Mafia ist, zugleich die Wahlerfolge der jahrzehnte­lang ununterbrochen regierenden Democrazia Cristiana in Rom, weswegen diese wiederum der Mafia die nötige Handlungsfreiheit ließ. Das Treiben tolerierten die im damaligen Italien sehr präsenten USA, denn die einzige innenpolitische Alternative wäre ausgerechnet die bis Mitte der Siebziger moskautreue KPI gewesen. In diesem Setting spielt »Der Fall Mattei«, in dem Rosi filmisch ermittelt, wer ein Interesse gehabt haben könnte am Tod des Erdölmoguls Enrico Mattei, der 1962 beim Absturz seines Privatflugzeugs unter nie ganz geklärten Umständen ums Leben kam. Mattei führte ab 1945 die staatliche, italienische Erdölgesellschaft ENI, korrumpierte die italienische Politik und setzte sich öffentlichkeitswirksam für die al­gerische Unabhängigkeit ein. Das sollte ihm bei den nordafrikanischen Förderstaaten Vorteile verschaffen, brachte ihm jedoch die Feindschaft der französischen Terrororganisation OAS. Aber auch in den USA war man nicht erfreut darüber, wie Mattei durch Geschäfte mit der Sowjetunion das seit der Kuba-Krise bestehende Embargo brach. Ein wunderbarer Stoff für Verschwörungstheorien also, der durch Rosis Film selbst noch mysteriöser wurde: Ein vom Regisseur mit Recherchen in Sizilien beauftragter Journalist verschwand dort spurlos.

Die Geschichte zeigt, warum Italien in den Siebzigern von gar nicht so unberechtigten Ängs­ten beherrscht war: Angst vor der mächtigen Mafia, vor einem rechtsextremen Staatsstreich, aber auch vor den Brigate Rosse. Das Klima brachte eine einzigartige Blüte des Genrekinos hervor: Beklemmende Krimis (so genannte ­Gialli), harte Polizeistreifen und Mafia­filme setzten den Boom der italienischen Filmindustrie fort. Einen der auch kommerziell erfolgreichsten Genrefilme brachte Rosi gegen den Widerstand der Staatsanwaltschaft, aber auch gegen den Willen der KPI, 1976 in die Kinos: In »Cadaveri Eccellenti«, der in Deutschland »Die Macht und ihr Preis« heißt, verfilmte der Regisseur einen der großen Thriller des sizilianischen Erfolgsautors Leonardo Sciascia, »Il Contesto« von 1971, auf Deutsch »Der Zusammenhang« bzw. »Tote Richter reden nicht«. Im Film verstrickt sich ein Kriminalbeamter tödlich in eine Mordserie, deren Opfer ausschließlich Strafrichter sind. Die Umrisse einer riesigen Verschwörung werden sichtbar, die römische Politik erscheint als bloße Kulisse mafiöser Herrschaft. Das beanstandete nicht nur das christdemokratische Establish­ment, sondern auch die seit Mitte der Siebziger auf den Euro-Kommunismus setzende Opposition.

Die bald auch in Italien erfolgende, allgemeine Verbreitung von Fernsehgeräten schadete jedoch dem italienischen Genrekino und einer Filmindustrie, die ohne staatliche Hilfen überleben konnte, in erheblichem Maß: Krimis wurden nun auch südlich der Alpen zur Angelegenheit von Fernsehserien. Rosi wandte sich deshalb am Ende des Jahrzehnts nicht nur vom »Giallo« ab, sondern auch vom ins politische Tagesgeschäft eingreifenden Kino überhaupt – und damit auch vom ästhetischen Erbe des Neo­realismus. Mit »Jesus kam nur bis Eboli«, nach dem gleichnamigen Roman des unter Mussolini nach Süditalien verbannten jüdischen Oppositionellen Carlo Levi, leitete Rosi 1979 sein Spätwerk ein, das zwar weiterhin durchaus zeit­geschichtliche Vorlagen aufgreift, ansonsten aber opulentes Requisiten- und Schauspieler­kino bietet. Allerdings war der Regisseur damit nicht mehr so erfolgreich, obwohl oder vielleicht weil er versuchte, der seit den Achtzigern bis heute herrschenden Tendenz zur Emotionalisierung und Personalisierung im Kino gerecht zu werden.

Leider sind es nur diese meist nicht recht geglückten Spätwerke Rosis wie die Primo-Levi-Verfilmung »Die Atempause« (1997), die bisher auf DVD veröffentlicht wurden. Vielleicht hilft die Hommage der Berlinale ja, einen überragenden Film wie »Die Macht und ihr Preis« in Deutsch­land endlich zugänglich zu machen. Wenn in diesem Zuge sogar weitere halbvergessene, große Regisseure des italienischen Genrekinos wie etwa Damiano Damiani oder Fernando di Leo aus der Nische im Nachtprogramm kleiner Privatsender geholt würden, wäre das sicher mehr, als man von einem Filmfestival erwarten kann. Aber hoffen darf man doch.
jungle World Nr. 5, 31. Januar 2008 dschungel
http://jungle-world.com/artikel/2008/05/21094.html
http://jungle-world.com/dschungel/

20
Jun
09

Psychoanalyse versus Systemtheorie

Eine interessante Aufsatzsammlung.

Hrsg./Bearb. Teubner, Gunther
Hrsg./Bearb. Amstutz, Marc
Titel Nach Jacques Derrida und Niklas Luhmann
Untertitel zur (Un-)Möglichkeit einer Gesellschaftstheorie der Gerechtigkeit
Verfasserang. hrsg. von Gunther Teubner. Mit Beitr. von Marc Amstutz …
Ort Stuttgart
Verlag Lucius & Lucius
ISBN 978-3-8282-0443-0
Jahr 2008
Umfang 198 S.
parallele Ausg. Sonderausg. von: Zeitschrift für Rechtssoziologie ; 29 (2008), H. 1
lok. Schlagwort Theorie
Schlagwort Gerechtigkeit / Rechtssoziologie / Aufsatzsammlung
lok. Schlagwort Soziologie
Bibliothek 294
Link http://deposit.d-nb.de/cgi-bin/dokserv?id=3127471&prov=M&dok_var=1&dok_ext=htm
Link http://digitool.hbz-nrw.de:1801/webclient/DeliveryManager?pid=2613701&custom_att_2=simple_viewer
30
May
09

Foucault: Denkbare Verkaufsgespräche

Moderne Existenz – Optimierung der Vorbereitungen eines Suizids

Ein so schlichtes Vergnügen – Michel Foucault

“[…] Sagen wir ein wenig zugunsten des Selbstmords. Nicht zum Recht dazu, über das allzu viele schon so schöne Dinge gesagt haben. Sondern gegen die schäbige Realität, die man daraus macht. Gegen die Erniedrigung, Heuchelei, Fragwürdigkeit, die man ihm aufzwingt: heimlich Tablettenschachteln sammeln, ein gutes, solides Rasiermesser alter Machart finden, sich das Schaufenster eines Waffenhändlers ansehen, mit unverfänglicher Miene einzutreten versuchen. Während man doch, wie ich meine,  Anrecht auf eine nicht nur eilige und darum eher peinliche Bedienung, sondern eine ernste, kompetente Beratung hätte. Man müsste über die Qualität und Wirkung der einzelnen Waffen diskutieren können. Man wünschte sich einen erfahrenen, lächelnden, aufmunternden Verkäufer, der dennoch reserviert bleibt und nicht geschwätzig ist. Er muss verstehen, dass er es mit einem gutwilligen, aber ungeschickten Menschen zu tun hat, der noch nie auf den Gedanken gekommen ist, eine Waffe gegen einen anderen zu richten. Man wünschte sich, dass sein Eifer ihn nicht hinderte, auch andere Möglichkeiten zu empfehlen, die vielleicht besser zu Lebensart und Naturell seines Kunden passen. Solch ein Verkaufsgespräch wäre tausendmal besser als die Diskussion mit den Leuten vom Beerdigungsinstitut neben der Leiche. […]”  (Michel Foucault: Ästhetik der Existenz, stw 1814, S.46 / Bild von michel-foucault.com)
Gefunden  bei Andreas Ullrich 1 27.05.2009 | 17:18 Praktische Philosophie

03
May
09

Informationszentrum Dritte Welt: Kolonialismus und NS. Kolloquium Februar 2009.

Kolonialismus und Nationalsozialismus

Die Debatte um (Dis-)Kontinuitäten

Welche Bedeutung hatte der (deutsche) Kolonialismus für den Nationalsozialismus? Diese Frage ist der Kern einer mitunter hitzigen Debatte, die seit einigen Jahren unter Historiker geführt wird. Eine wichtige Rolle spielt dabei der Kolonialkrieg der deutschen Schutztruppe 1904-08 in Deutsch-Südwestafrika gegen die Herero und Nama. War dieser Krieg als Genozid ein Vorläufer des NS-Vernichtungskrieges oder nicht? Inwieweit kann der deutsche Ostfeldzug im Zweiten Weltkrieg als Kolonialkrieg gelten? Ist der Genozidbegriff geeignet, um Megaverbrechen wie den Herero- und Namakrieg einerseits und den nationalsozialistischen Mord an den europäischen Juden andererseits zu beschreiben?

Diese Fragen waren Gegenstand eines Kolloquiums am 7.2.2008 und eines Seminars am 8.2.2008 an der Universität Freiburg, zu denen zwei profilierte Protagonisten dieser Debatte eingeladen waren: der Kolonialhistoriker Jürgen Zimmerer (Universität Sheffield) und seine Kritikerin Birthe Kundrus, ebenfalls Historikerin (Hamburger Institut für Sozialforschung). Wir präsentieren hier die ungekürzten Vortragsmanuskripte von Zimmerer und Kundrus sowie die sich daran anschließenden Diskussionen. Kurzfassungen der Vorträge und Diskussionsbeiträge erschienen in iz3w 309 und 310.

Zur Einführung in die Thematik eignen sich zwei weitere Beiträge, die im Kontext der Veranstaltung entstanden. Philip Geck/ Anton Rühling zeichnen die bisherige Debatte über die Frage nach, ob und inwieweit der deutsche Kolonialismus als “Vorläufer des Holocaust” gelten kann. Jörg Später beschäftigt sich mit dem politischen Kontext der Kontinuitätsdebatten um Kolonialismus und Nationalsozialismus und der Frage, warum sie so erhitzt geführt werden.

die iz3w-Redaktion

Philip Geck und Anton Rühling: Vorläufer des Holocaust? Die Debatte um die (Dis-)Kontinuität von Kolonialismus und Nationalsozialismus (iz3w 308)

Jörg Später: Gegenläufige Erinnerungen. Historizität und politischer Kontext der Debatten um Kolonialismus und Nationalsozialismus (iz3w 308)

Jürgen Zimmerer: Der erste deutsche Genozid. Zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust (Vortragsmanuskript)

Birthe Kundrus: Entscheidende Unterschiede. Für die Frage nach den Verbindungen zwischen Kolonialismus und NS ist der Genozid-Begriff wenig hilfreich (Vortragsmanuskript)

Podiumsdiskussion (Transkription)

Seminar (Transkription)

Vorläufer des Holocaust? Die Debatte um die (Dis-)Kontinuität von Kolonialismus und Nationalsozialismus (iz3w 308) von Philip Geck und Anton Rühling


Angestoßen wurde die Debatte über den Zusammenhang von deutschem Kolonialismus und Nationalsozialismus vor allem vom Kolonialhistoriker Jürgen Zimmerer. Er kam nach intensiver Auseinandersetzung mit dem deutschen Kolonialkrieg gegen die Herero und Nama zu dem Schluss, dass es sich hierbei um den “ersten Genozid des 20. Jahrhunderts” gehandelt habe. Zimmerer sieht in dem Krieg einen “ultimative[n] Tabubruch – zu denken und danach zu handeln, dass andere Ethnien einfach vernichtet werden können” 1. Dieser Genozid sei ein “Vorläufer des Holocausts”. Dabei betont Zimmerer die große öffentliche Resonanz, die der Krieg bei den deutschen Zeitgenossen hervorrief und die sich im Erfolg von Kolonialliteratur widerspiegelte. Die Erfahrung der deutschen Truppen in Südwestafrika, die allgemeine Kolonialbegeisterung im Deutschen Reich sowie personelle und institutionelle Kontinuitäten schufen laut Zimmerer ein “kulturelles Reservoir”, aus dem der Nationalsozialismus schöpfen konnte. 2

Zimmerer will den Nationalsozialismus nicht nur auf koloniale Erfahrungen zurückführen, doch er sieht den Südwestafrikakrieg als “wichtigen Ideengeber” 3, als “Bindeglied” 4 zwischen kolonialer Gewalt und den NS-Vernichtungsexzessen. Auch wenn Zimmerer die unterschiedliche Rolle des Staates in Kolonialismus und Nationalsozialismus anerkennt, sieht er die nationalsozialistischen Verbrechen als “radikalste Ausprägung” in der Geschichte des Völkermords. Beide Kriege fielen somit unter die gemeinsame Kategorie des Genozids.

Zustimmung und Kritik
Mit seinen Thesen fand Zimmerer einige Zustimmung. Auch Henning Melber und Reinhart Kößler sehen Kontinuitäten des deutschen Kolonialismus und stellen weitere deutsche Kolonialkriege zur Diskussion. In einer ganzen Serie von Kriegen, ob in Südwestafrika, Ostafrika oder Kamerun, sei der Völkermord zumindest als Möglichkeit in Betracht gezogen worden. Im Zuge der Postcolonial Studies postulieren Kößler / Melber eine Wechselwirkung zwischen Kolonien und Europa. Koloniale Herrschaftspraxis und Ideologie seien ein wichtiges Element auf dem Weg zum Dritten Reich. 5

Die Verbindungslinien, die Zimmerer zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus zeichnet, haben heftigen Widerspruch herausgefordert. Kritiker der Kontinuitätsthese wie Birthe Kundrus greifen Zimmerers Argumentation gleich im Ansatz an und bezweifeln, ob es sich im Herero und Nama-Krieg überhaupt um einen Genozid gehandelt habe. Zimmerer beruft sich in seiner Argumentation auf die UN-Genozidkonvention, für die eine Intention der Täter zur Vernichtung einer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe ausschlaggebend ist. Es ist jedoch umstritten, ob der Wille zur Vernichtung wirklich gegeben war. Für die amerikanische Historikerin Isabel Hull liegt der Grund für die ausartende Gewalt des Kolonialkrieges in Südwestafrika in der deutschen Militärkultur, die den totalen militärischen Sieg forderte und dabei zerstörerische Tendenzen entwickelte, ohne dass eine totale Vernichtung geplant war. Die Proklamation des deutschen Befehlshabers von Trotha, in der er die Herero praktisch für vogelfrei erklärt, sei ex post facto erfolgt. Schon davor habe das – nach damaligen Maßstäben – Versagen der deutschen Truppen die Gewaltspirale in Gang gesetzt. 6 Der Südwestafrikakrieg wird in dieser Lesart zu einer aus dem Ruder gelaufenen Strafaktion und nicht zu einem intendierten Völkermord. 7

Robert Gerwarth und Stephan Malinowski sehen ein weiteres Problem in der Argumentation Zimmerers. Auf der einen Seite untersuche Zimmerer im Sinne der Postcolonial Studies die Verbindungen zwischen europäischem Kolonialismus und dem Nationalsozialismus, auf der anderen Seite konzentriere er sich vor allem auf einen deutschen Kolonialkrieg und rufe so Erinnerungen an die deutsche Sonderwegsthese wach. Denn eingeordnet in den Kontext des westlichen Kolonialismus verliere der Südwestafrikakrieg seinen paradigmatischen Charakter – und ohne den “Tabubruch” werde Zimmerers These hinfällig. 8 Die strukturell ähnliche Kolonialpolitik der Briten und Franzosen habe nicht zu faschistischen Staatsformen geführt, stellt auch Pascal Grosse heraus. 9

Die Kritiker der Kontinuitätsthese sind sich darin einig, dass der Kolonialkrieg in keinem Verhältnis zu den Dimensionen des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges steht. Während in Südwestafrika wenige Tausend Soldaten zum Einsatz kamen, waren im Zweiten Weltkrieg bis zu 18 Millionen Soldaten beteiligt. Auch personelle Kontinuitäten wie die des General Lettow-Vorbeck, der als kolonialer Kriegsheld in der Weimarer Republik zum Idol der Rechten wurde, gehörten zu den Ausnahmen. Als viel entscheidender sehen die Kritiker den Ersten Weltkrieg mit seinen einschneidenden Veränderungen, den Zimmerer in seiner Argumentation nicht berücksichtige.

Ostland gleich Kolonialland?

Im Rahmen dieser Debatte wird noch eine weitere Fragestellung diskutiert: War der nationalsozialistische Krieg gegen die UdSSR und Polen ein kolonialer Eroberungskrieg? In Konzepten wie “Rasse” und “Raum” sieht Zimmerer die grundlegenden Parallelen zwischen europäischem Kolonialismus und der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik; hier geht er über den südwestafrikanischen Kontext hinaus. Ein rassistisches Weltbild und die damit verbundene Hierarchisierung der Ethnien bildete die Grundlage für eine nach “Lebensraum” strebende Ideologie. Sowohl der Kolonialismus als auch der Nationalsozialismus griffen in ihrer Eroberungs- und Beherrschungspolitik auf dieses Denken zurück. Zimmerer interpretiert deshalb das “Ostland” als Kolonialland und sieht strukturelle Ähnlichkeiten zum Südwestafrikakrieg: “Die Einordnung als ‚Rassenkrieg’, das Abdrängen in lebensfeindliche Gegenden, die Zerstörung der Nahrungsgrundlagen, die summarischen Exekutionen und die Vernichtung durch Vernachlässigung sind deutliche Parallelen.” 10 Die asymmetrische Kriegsführung außerhalb der eigenen Staatsgrenzen und die Entmenschlichung des Gegners seien weitere Gemeinsamkeiten zwischen den europäischen Kolonialkriegen und dem NS-Krieg.

Letzteres gestehen auch Gerwarth und Malinowski zu. Im Nationalsozialismus fehle jedoch die Ambivalenz des Kolonialismus, der immer zwischen Entwicklung und Vernichtung geschwankt habe. Während die Kolonialherrschaft Kompromissstrukturen wie etwa den Aufbau lokaler Eliten entwickelt habe, sei die nationalsozialistische Vernichtung der osteuropäischen Länder “nicht Mittel, sondern Zweck” 11 gewesen. Hier, so Gerwarth und Malinowski, endeten die Parallelen. Zudem sei das NS-Regime ein neuer Staatstypus, in dem die Vernichtung im Einklang mit der Politik war, während es im Kolonialismus politische Kontrolle und Opposition gab.

Methodische Überlegungen

Die Debatte hat auch methodische Grundfragen der Geschichtswissenschaft aufgeworfen. Birthe Kundrus verweist auf die sehr unterschiedlichen Begriffe der Kontinuitätsthese. Egal ob von “Traditionen”, “Vorläufern”, “strukturellen Ähnlichkeiten” oder “Kontinuitäten” gesprochen werde – diese Schlüsselbegriffe blieben mehrdeutig. Oft werde ein kausaler Zusammenhang impliziert und nicht berücksichtigt, dass Gesellschaften selbst Traditionen produzieren. Für Kundrus ist die Rezeption in der Gegenwart wichtiger als Beharrungskräfte aus der Vergangenheit. Deshalb plädiert sie dafür, von “Transfer” zu sprechen, wenn das NS-Regime auf koloniale Begrifflichkeiten wie “Konzentrationslager” zurückgreift, diese jedoch auf die eigene Situation anwendet. 12

Zudem kritisiert Kundrus die Verwendung des Genozid-Begriffes, der zwar zu wertvollen Fragestellungen geführt habe, mit seiner begrenzten Definition jedoch zu stark einenge. Der Südwestafrikakrieg und der Ostfeldzug seien einzigartige historische Phänomene, die sich nicht unter der Kategorie Genozid vereinen ließen. Beide ähnelten sich in ihrer entgrenzten Gewalt, bei denen der situative Charakter überwogen habe – unabhängig von Kontinuitäten und Transfers. 13

Zimmerers These hat den deutschen Kolonialismus neu zur Diskussion gestellt. Sein Versuch, dessen Bedeutung für das NS-Regime an konkreten Beispielen festzumachen, bleibt umstritten. Die weithin anerkannte Beziehung zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus ist nach wie vor schwer zu fassen. Der Vergleich regt jedoch an, das jeweilig Spezifische herauszuarbeiten und neu darüber nachzudenken, welche Rolle mögliche Vorläufer und situative Elemente im Nationalsozialismus gespielt haben.

Anmerkungen:

1 Jürgen Zimmerer: Holocaust und Kolonialismus. Beitrag zu einer Archäologie des genozidalen Gedankens, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51 (2003), S. 1119.
2 Jürgen Zimmerer: Rassenkrieg und Völkermord. Der Kolonialkrieg in Deutsch-Südwestafrika und die Globalgeschichte des Genozids, in: Genozid und Gedenken. Namibisch-deutsche Geschichte und Gegenwart, hrsg. v. Henning Melber, Frankfurt a. M. 2005, S. 48.
3 Zimmerer: Holocaust und Kolonialismus, a.a.O., S. 1119.
4 Jürgen Zimmerer: Krieg, KZ und Völkermord in Südwestafrika. Der erste deutsche Genozid, in: Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904-1908) in Namibia und seine Folgen, hrsg. v. Jürgen Zimmerer und Joachim Zeller, Berlin 2003, S. 62.
5 Reinhart Kößler/ Henning Melber: Völkermord und Gedenken. Der Genozid an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika 1904-1908, in: Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Irmtrud Wojak und Susanne Meinl, Frankfurt a. M. 2004, S. 37-75.
6 Isabel V. Hull: Absolute Destruction. Military Culture and Practices of War in Imperial Germany, Ithaca und London 2005, S. 55; Birthe Kundrus: Kontinuitäten, Parallelen, Rezeptionen. Überlegungen zur “Kolonialisierung” des Nationalsozialismus, in: Werkstatt Geschichte 43 (2006), S. 45-62.
7 Boris Barth: Genozid. Völkermord im 20. Jahrhundert. Geschichte, Theorie, Kontroversen, München 2006, S. 131.
8 Robert Gerwarth/ Stephan Malinowski: Der Holocaust als “kolonialer Genozid”? Europäische Kolonialgewalt und nationalsozialistischer Vernichtungskrieg, in: Geschichte und Gesellschaft 33 (2007), S. 439-466.
9 Pascal Grosse: What Does German Colonialism have to do with National Socialism. A Conceptual Framework, in: Germany’s Colonial Past, hrsg. v. Eric Ames u.a., Lincoln u. London 2005, S. 115-134.
10 Zimmerer: Krieg, KZ und Völkermord in Südwestafrika, a.a.O., S. 60.
11 Gerwarth/ Malinowski: “kolonialer Genozid”?, a.a.O., S. 458.
12 Kundrus: Kontinuitäten, a.a.O.
13 Birthe Kundrus/ Henning Strotbek: “Genozid”. Grenzen und Möglichkeiten eines Forschungsbegriffs – ein Literaturbericht, in: Neue Politische Literatur 51 (2006), S. 397-423.

Philip Geck und Anton Rühling studieren Geschichte in Freiburg

.Jörg Später: Gegenläufige Erinnerungen.

Historizität und politischer Kontext der Debatten um Kolonialismus und Nationalsozialismus (iz3w 308)


Kontinuitätsdebatten um den Nationalsozialismus führten bereits die Zeitgenossen. In Großbritannien und den USA fragte man sich, was der Grund dafür sei, dass die Deutschen fortwährend ihre Nachbarn überfielen und wieso eine zivilisierte Nation sowohl einen Goethe als auch einen Hitler hervorbringen konnte. Man suchte nach geistigen Traditionen, nach Vorläufern und konstruierte Ahnenreihen, die bis Nietzsche, Luther oder sogar Hermann dem Cherusker zurückreichten.

Die Frage “wie konnte es zu 1933 kommen?” beschäftigte auch deutsche Historiker unmittelbar nach 1945, meistens, um bestimmte deutsche Traditionen von der Anklage des “Auslands” freizusprechen. In den 1960er Jahren formulierte dann Fritz Fischer die These vom ersten deutschen Griff nach der Weltmacht während des Kaiserreiches – dem, so die Logik des Arguments, im Dritten Reich der zweite folgen sollte. Die Bielefelder Sozialhistoriker um Hans-Ulrich Wehler begaben sich um 1970 auf der Suche nach dem deutschen Sonderweg zu 1933 ins 19. Jahrhundert – um nicht wieder zurückzukehren, mit Ausnahme des Mentors, der jedoch dann den wenig sozialhistorischen Interpretationsansatz des ‚Charisma des Führers’ zur Erklärung des Nationalsozialismus bemühte.

Unter heutigen Zeithistoriker besteht so etwas wie ein Konsens darüber, dass der Erste Weltkrieg, also eine vorwiegend europäische Angelegenheit, die “Urkatastrophe” des “Jahrhunderts der Extreme” gewesen sei, mithin auch der Wegbereiter des Nationalsozialismus. Die Tat der Judenvernichtung wird dabei oft als “Zivilisationsbruch” (Dan Diner) behandelt, also als etwas Singuläres, eine Zäsur, die den Fluss der Geschichte unterbricht. Mit dem Begriff ist gemeint, dass der bürokratisch organisierte und zum Teil industriell durchgeführte Massenmord die Widerlegung einer Zivilisation bedeute, deren Denken und Handeln einer Rationalität folge, die ein Mindestmaß antizipatorischen Vertrauens voraussetze. Die Annahme, dass der Mord an den Jüdinnen und Juden einer Gegen-Rationalität oder einer “Terrorratio” (Jan Philipp Reemtsma) gefolgt sei, ist Ausdruck der Opferperspektive. Diese fragt nämlich in der Regel nicht: “Wie ist es eigentlich gewesen?” oder “Wie war es eigentlich möglich?”, sondern: “Warum ausgerechnet wir?” Sie findet die Antwort im Antisemitismus und konstatiert eine historische Krise. Nur in der Psyche der Opfer lässt sich die Gegenrationalität der Täter eruieren. Dan Diner hat dies anhand des Beispiels der Judenräte verdeutlicht: Diese spekulierten darauf, dass die Handlungen der Nazis auf Nützlichkeitserwägungen, etwa die Ausbeutung von Arbeitskraft, beruhen würden. Deshalb kooperierten sie – und führten die Juden ihrer Ermordung entgegen.

Wo kam das her?

Stimmen, die im deutschen Kolonialismus die Wurzeln des Nationalsozialismus bestimmten, waren dagegen rar, obwohl Hannah Arendt neben dem Antisemitismus den Imperialismus und die in Afrika “erprobten” Konzepte von Rasse und Bürokratie als einen “Ursprung totaler Herrschaft” ausmachte. Arendts Klassiker von 1951 wurde erst rund 15 Jahre später wieder aufgegriffen, als einerseits der DDR-Historiker Horst Drechsler und andererseits der westdeutsche Afrika-Historiker Helmut Bley den Massenmord an den Herero und Nama untersuchten. Vor allem Letzterer drehte die Frage um: Nicht mehr “Wo kommt das her?”, sondern “Wo führt koloniale Gewalt hin?” war nun erkenntnisleitend. Bley war die Wechselwirkung zwischen kolonialer Erfahrung, zeitgenössischen politischen und sozialen Ordnungsvorstellungen sowie der Anwendung und Weiterentwicklung moderner Herrschaftstechniken und ihrer Konsequenzen für das Zusammenleben der Menschen wichtig: “Afrikaner und Deutsche sind in diesem erbitterten Konflikten verändert worden.”

Die Neue Linke nach 1968 nahm diese Perspektive im Bemühen auf, den Kapitalismus als materiale Grundlage sowohl von Kolonialismus/ Imperialismus einerseits als auch von Faschismus andererseits zu bestimmen. Zum Beispiel untersuchte Peter Schmitt-Egner, der sich in einem studentischen Diskussionszusammenhang mit Dan Diner, Kanan Makiya und Tariq Ali bewegte, den Zusammenhang von Kolonialismus und Faschismus: “Die historische Kontinuität und strukturelle Affinität von Kolonialismus und Faschismus wird implizit und explizit im welthistorischen Zusammenhang des Imperialismus im Allgemeinen und des deutschen Kolonialismus im Besonderen dargestellt.” Das Argument der antikolonialen Kritiker der 1960er Jahre wie Frantz Fanon, Albert Memmi und Aimé Césaire, der Kolonialismus sei die konstitutive Außenseite des Kapitalismus und der Faschismus ein nach innen gekehrter Imperialismus, wurde hier wirkungsmächtig. Faschismus, Kolonialismus und Imperialismus wurden hier als ein kausaler Zusammenhang begriffen und allesamt auf den Kapitalismus zurückgeführt.

Mitte der 1980er Jahre wurde die eher theoretische und politische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus durch die empirische Erforschung von Täter, Taten und Tatorten der Judenvernichtung abgelöst. Die koloniale Erfahrung spielte dabei keine Rolle. Generell herrschte in Deutschland hinsichtlich des eigenen, als kurz empfundenen und zeitlich weit entfernten kolonialen Engagements die Devise: “Wir nicht, die anderen auch” (so Andreas Eckert). Gerade wegen Auschwitz wollte man an kolonialen Gewaltexzessen nicht auch noch schuld sein. Erst seit einigen Jahren ist über den Umweg der Postcolonial Studies die “situation coloniale” als mögliches Laboratorium von entgrenzter Gewalt, ideologischen Raum- und Rassekonstruktionen und imperialen Herrschaftsstrategien wiederentdeckt worden. Eine wichtige Rolle dafür spielten auch der Aufstieg transnationaler Geschichtsschreibung und vergleichender Genozidforschung, die Enthistorisierung des Holocaust als einer moralischen Ikone von Gut und Böse, der verstärkt geführte Menschenrechtsdiskurs und die Identitätspolitik von Opfern historischen Unrechts.

Diese Verweise auf die koloniale Situation sind allerdings von den NS-Historiker bislang nicht aufgegriffen worden, was bei denjenigen Historiker, die sich mit Kolonialkriegen beschäftigen, auf Unverständnis stößt. Hier treffen offensichtlich unterschiedliche Wissenserfahrungen und -traditionen aufeineinander, oder um es mit Dan Diner zu sagen: “gegenläufige Gedächtnisse”.1

Befreiung oder Unterdrückung?

Die gegenläufigen Erinnerungen erklären nicht nur die Konkurrenz zwischen Kolonial- und NS-Historiker und den jeweiligen Opferperspektiven, sondern sind auch Subtext in vielen politischen Debatten, etwa über Israel, Islam oder Multikulturalismus. Ein Blick zurück auf die unmittelbare Nachkriegszeit zeigt, wie sich solche Diskurse herausbildeten. Nehmen wir den 8. Mai 1945: Dieser Tag ist in das westliche Gedächtnis als Tag der Befreiung eingegangen, als Überwindung von Nationalsozialismus, Krieg und dessen, für was “Auschwitz” steht: extreme Gewalt, Rassismus, Antisemitismus. An jenem Tag demonstrierten in den algerischen Städten Sétif und Constantine Hunderttausende für ein unabhängiges, freies Algerien. Die Franzosen, die gerade noch algerische Soldaten für einen freiheitlich-demokratischen Krieg gegen Nazideutschland engagiert hatten, schlugen die Demonstration nieder und töteten Zehntausende. In einer antikolonialen Perspektive kann dieser 8. Mai also als Tag der erneuten Unterdrückung erscheinen.

Gerade unter arabischen Intellektuellen ist das Bewusstsein über dieses Auseinanderklaffen zwischen dem westlichen (und jüdischen) 8. Mai und dem antikolonialen 8. Mai im Laufe der Jahrzehnte wirkungsmächtig geworden. Verstärkt wurde das Auseinandertreten der Opfer nationalsozialistischer und kolonialer Gewalt durch die konkurrierenden Interpretationen des Mords an den Jüdinnen und Juden. Drei Jahre nach Kriegsende fielen symbolisch zwei Ereignisse fast nahezu zusammen, die diese Kluft vertiefte und verdeutlichte: die Gründung des Staates Israel auf der einen Seite und die Erklärung der Menschenrechte in Verbund mit der UN-Genozidkonvention auf der anderen Seite. Die mit Gewalt verbundene Errichtung eines jüdischen Staates im mehrheitlich arabischen Palästina, die als kolonialistischer Akt gedeutet wurde, trug die Botschaft in sich: Nie wieder soll Juden das geschehen, was ihnen geschah – zumindest nicht ohne Gegenwehr. Die Antwort auf Auschwitz war eine partikularistische: Die Welt hat sich nicht verändert, aber wir Juden sind nun wehrhaft. Die “Kolonisierten” aber sahen sich fortan als “Opfer der Opfer”.

Die Erklärung der Menschenrechte und die Genozidkonvention waren dagegen eine universalistische Antwort auf “Auschwitz”: Nie wieder soll “dem Menschen” das geschehen, nie wieder darf eine religiöse, rassische oder kulturelle Gruppe vernichtet werden. Dass
ein Jude und Überlebender des Holocaust, Raphael Lemkin, den Genozidbegriff prägte und mit der “rassischen Gruppe” die Juden gemeint waren (ohne diese Abstraktion wäre

die Konvention nicht durchsetzbar gewesen, genauso wenig, wenn politischer Genozid oder Klassengenozid aufgenommen worden wären), änderte nichts daran, dass die “jüdische Erfahrung” verallgemeinert worden ist. “Auschwitz” gehörte nicht mehr nur den Juden (oder den Deutschen), sondern allen Unterdrückten, Ermordeten und “Verdammten dieser Erde” (Fanon).

Der ideologische Konflikt zwischen Kapitalismus und Kommunismus im Kalten Krieg hielt die “gegenläufigen Erinnerungen” in einer Latenzphase, wenngleich sie immer wieder durchbrachen, etwa als 1974 der Zionismus vor der UNO-Vollversammlung als Rassismus verurteilt und Israel damit auf die “Naziseite” gerückt wurde, was natürlich für Juden eine Ungeheuerlichkeit war. Der Clash der Perspektiven dauerte an, befeuerte das antisemitische Unbewusste der antizionistischen Neuen Linken der 1970er Jahre und fand in den 1980er und den 1990er Jahren Eingang in akademische Interpretationen der historischen Gewalterfahrungen – im Begriff des “Zivilisationsbruches” einerseits und der postkolonialen Kritik andererseits.

Symbol für das Böse

Der Genozidbegriff, der nun Stein des Anstoßes in der Debatte um eine Kontinuität zwischen deutschem Kolonialismus und Nationalsozialismus ist, kam durch eine weitere Entwicklung der 1990er Jahre wieder ins Spiel (nachdem er während des Kalten Krieges keine Rolle spielte): der Sakralisierung des Holocaust. Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wurde in der Geschichtswissenschaft einerseits endlich der Mord an den Jüdinnen und Juden als das entscheidende Ereignis des Zweiten Weltkrieges entdeckt und erforscht. Vorher galt er als Kriegstragödie unter anderen oder ging in Faschismus- und Totalitarismusdebatten unter. Andererseits erging man sich in verallgemeinernden Rückschauen wie “Jahrhundert der Extreme”, “Jahrhundert der Gewalt” oder “Jahrhundert der Lager”. Einerseits wurden endlich Taten, Täter und Tatorte des Mordes an den europäischen Juden erforscht, andererseits wurde der Holocaust zu einer Erinnerungsikone, zum Symbol für das Böse schlechthin, auf den sich verschiedenste Opfergruppen bezogen – entweder vereinnahmend, etwa im Sinne von “Black Holocaust”, oder relativierend oder gar leugnend, um das Monopol der Juden auf die Opferrolle im “größten Menschheitsverbrechen aller Zeiten” zu brechen.

Immer spielte der Genozidbegriff dabei eine Rolle. In jedem Fall wurde er aus seinem Kontext – Zweiter Weltkrieg, deutsche Besatzungspolitik und “völkische Flurbereinigung” in Osteuropa – herausgelöst und damit enthistorisiert. Zugleich wurde er entweder verallgemeinert und vermenschlicht oder aber, als Gegenbewegung, mystisch überhöht und mit den Geboten versehen: “Remember!” und “Du sollst nicht vergleichen!” So oder so ist die Beschäftigung mit dem Mord an Jüdinnen und Juden zu einer rein moralischen und politischen Angelegenheit geworden. Jedes große Massaker, jede “ethnische Säuberung”, jeder staatliche Massenmord wird zwangsläufig mit dem Holocaust in Relation gesetzt.

Die Globalisierung von Erinnerungskultur und der Aufstieg von Menschenrechtspolitik trugen das Übrige dazu bei, dass monetäre Opferkonkurrenz und makabre Opferranglisten, Identitätspolitik und Anerkennungspolitik die vergangenheitspolitischen Debatten bestimmen. Wahrscheinlich geht das kaum anders, vor allem wenn es um historische Schuld, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung geht. Nur kennen sollte man den doppelten Boden solcher scheinbar rein wissenschaftlichen Debatten. Die große Debatte um Kontinuitäten zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus ist wohl eher politisch motiviert und wird in dem Moment auf ein unaufgeregtes Normalmaß gestutzt werden, wenn der in Deutsch-Südwestafrika geschehene “erste deutsche Genozid” endlich politisch anerkannt worden ist.

Anmerkungen:
1 Siehe dazu Diners gleichlautenden Essay (Göttingen 2007), dem der Grundgedanke der folgenden Ausführungen entnommen ist.

Jörg Später ist Historiker, freier Autor und ehemaliger Mitarbeiter des iz3w.

Jürgen Zimmerer: Der erste deutsche Genozid.

Zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust (Vortragsmanuskript)

Die Deutschen tun sich schwer mit dem Kolonialismus. Lange Zeit an Universitäten wie im öffentlichen Bewusstsein allgemein ignoriert und vergessen, wird er seit einigen Jahren zwar erinnert, jedoch meist exotisiert und banalisiert. Hegels bekanntes Diktum, dass Afrika keine Geschichte hätte, wird immer noch von vielen geglaubt, zumindest in der Form, dass, wenn es eine Geschichte hat, diese zumindest keinerlei Bedeutung für unsere eigene besitzt – sei es die europäische, sei es die deutsche. Zwar wurden hie und da Professuren und Lehrstühle für Afrikanische, Asiatische, Lateinamerikanische oder allgemein Außereuropäische Geschichte eingerichtet. Aber nur umso leichter ließ sich an den eigentlichen Lehrstühlen, den nationalgeschichtlich definierten, der Fokus auf die deutsche Geschichte beibehalten.

Dabei gehört der Kolonialismus, das heißt die europäische Ausbreitung über den Globus, zu den weltgeschichtlich entscheidenden Entwicklungen der letzten Jahrtausendhälfte, vergleichbar wohl nur mit der Ausbreitung des Islam. Trotzdem behandeln ihn viele nach wie vor wie ein Randereignis der Geschichte, das man getrost einigen institutionellen Exoten überlassen kann. Die Geschichte des europäischen Kolonialismus – über andere Kolonialismen kann ich heute hier nicht sprechen – ist aber Globalgeschichte und Globalisierungsgeschichte in einem. Globalgeschichte spart keinen Kontinent aus und gesteht keinem a priori eine auserwählte Sonderposition zu. Die Überwindung der wissenschaftlich unfruchtbaren und eurozentrischen Annahme eines Sonderstatus Europas, wie er in der Unterscheidung europäisch-außereuropäisch zum Tragen kommt, ist eines der Ziele meines Ansatzes.

Der europäische Kolonialismus zeigte in seiner über fünfhundertjährigen Geschichte viele Gesichter: Europäer gingen in fremde Gegenden und Erdteile, um zu erobern und zu plündern, um zu missionieren und zu zivilisieren, um zu verwalten und zu entwickeln, um auszubeuten und zu siedeln. Sie kamen als Abenteurer und Glücksritter, als Konquistadoren und Beamte, als Farmer und Handwerker. Sie trafen auf Hochkulturen und in kleinen Familienverbänden lebenden Sammler und Jäger, auf Menschen, die wissensdurstig und neugierig den Kontakt mit ihnen suchten, und solche, die die fremden Eindringlinge von Anfang an ablehnten. Sie lebten, liebten, handelten und verhandelten in Plantagen-, Handels und Siedlungskolonien. Der europäische Kolonialismus zerstörte und baute auf, er brachte Tod mit sich und medizinischen Fortschritt, er versklavte und bildete.

Weder kann der Kolonialismus durch die Aneinanderreihung bestimmter Gräueltaten und Verbrechergestalten vom Range eines Pizarro oder eines Lothar von Trotha zur schwarz-weißen Horrorgeschichte gemacht werden, noch läßt sich der Kolonialismus durch Hinweis auf einige Lichtgestalten oder segensreiche Entwicklungen in eine Heilsgeschichte verwandeln. Und schon gar nicht sollte man den Kolonialismus nur von seinem Ende her bewerten: von den verzweifelten Bemühungen der ehemaligen Kolonialmächte, das Versprechen der zivilisatorischen Mission, mit dem sie ihre außereuropäischen Reichsbildungen gerechtfertigt hatten, kurz vor Toresschluss doch noch einzulösen.

Es stellt sich nun die Frage, was Kolonialismus eigentlich ist. Wolfgang Reinhard hat eine zutreffende Definition gegeben, als er Kolonialismus als “Herrschaftsverhältnis unter Ausnutzung einer Entwicklungsdifferenz” bezeichnete. Zwar würde ich selbst den Begriff der Entwicklung nicht unproblematisiert verwenden wollen, jedoch verliert er keineswegs an Plausibilität, wenn man ihn zum einen technokratisch als administrative und waffentechnologische Überlegenheit betrachtet, und wenn man die Entwicklungsdifferenz als “angenommene” versteht, d.h. der Kolonisator fühlt sich überlegen, und sei es kulturell . Eine weitere, postkolonial geprägte Definition versteht darunter jegliches Herrschaftsverhältnis auf binärer Grundlage. Ganz gleich, welcher man zuneigt, es ist in der modernen Forschung unumstritten, dass Kolonialismus sich nicht auf formale Kolonialherrschaft beschränken läßt.

Globalgeschichte wird seit einigen Jahren unter vielerlei Gesichtspunkten geschrieben. Seltsam vernachlässigt scheint mir dabei die Geschichte der Massengewalt zu sein, insbesondere ‚ethnische Säuberungen’ und Genozid. Auf theoretisch anspruchsvollem Niveau wird sie vor allem in und über Australien und Nordamerika geführt. Es ist dieser Kontext, indem auch die Debatte über den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts steht. Betrachtet man jedoch genozidale Ereignisse in Australien, Nordamerika und Südwestafrika, fallen dabei Parallelen und strukturelle Ähnlichkeiten auf, über die nachzudenken es sich lohnt. Der Siedlerkolonialismus, und damit haben wir es in den drei genannten Fällen zu tun, war der Versuch der Kontrolle und bevölkerungspolitischen Neuordnung größerer Territorien nach den Vorgaben einer von außen in die Region gekommenen Bevölkerung. Er basierte zwingend auf einer ethnisch verstandenen Hierarchisierung der Bevölkerung. Motiviert und auch gerechtfertigt wurden sowohl die Invasion als auch die Besetzung fremder Kontinente durch die Einteilung der Menschen in höhere, zum Herrschen bestimmte, und niedere, ihnen unterworfene Rassen. Ob unverhohlener Raub, oder Rechtfertigung als Zivilisationsmission, kaum irgendwo findet sich eine Akzeptanz des indigenen Gegenübers als Gleichem, fast überall findet sich dagegen eine Zurücksetzung. Anders als mit essentieller Ungleichheit ließen sich der gigantische Landraub und die Ausbeutung, die mit dem Kolonialismus verbunden waren, auch gar nicht rechtfertigen. Am untersten Ende der Rangstufe imaginierte man nur allzu oft Gruppen, die angeblich dem Untergang geweiht waren. Hier nachzuhelfen erschien eher als weltgeschichtlicher Auftrag, denn als der brutale Massenraubmord, der es eigentlich war.

Im Siedlerkolonialismus kommt es deshalb besonders häufig zu genozidaler Gewalt: “Genocide has two phases: one, destruction of the national pattern of the oppressed group: the other, the imposition of the national pattern of the oppressor. This imposition, in turn, may be made upon the oppressed population which is allowed to remain, or upon the territory alone, after removal of the population and the colonization of the area by the oppressor’s own nationals.” Das genau ist Siedlerkolonialismus: das Vorgefundene wird unterdrückt oder sogar beseitigt, und dann durch Neues ersetzt.

Die Frage, ob der Begriff des Genozids überhaupt auf den Kolonialismus anzuwenden sei, scheint sich mir dadurch zu erübrigen. Genozid ist kolonial. Das belegt auch die oben genannte Definition, die von keinem geringeren als Raphael Lemkin stammt, dem polnisch-jüdischen Juristen und Urheber des Völkermordkonzepts. Das Zitat stammt aus seiner grundlegenden Analyse der NS-Besatzungspolitik in Osteuropa, “Axis Rule in Occupied Europe”. Damit dürfte sich auch die Frage, ob man das Konzept Genozid zugleich auf den Kolonialismus und die nationalsozialistischen Verbrechen anwenden könne, erledigt haben: Das Konzept war von Lemkin ausdrücklich mit Blick auf beide Phänomene entwickelt worden. Er selbst schrieb in seiner Geschichte des Völkermords auch über die Herero.

Welche Rolle spielt nun aber der deutsche Kolonialkrieg in Namibia in dieser Globalgeschichte des Völkermordes? Es ist banal, festzustellen, dass koloniale Völkermorde nicht gleichgesetzt werden könnten mit den nationalsozialistischen. Dazu sind sie in der Form ihrer Ausführung und in der Auswahl ihrer Opfer wahrlich zu unterschiedlich. Überhaupt lassen sich keine zwei historischen Ereignisse gleichsetzen. Vergleichen muß man historische Ereignisse jedoch, da man ohne die logische Operation des Vergleichs auch das jeweils Spezifische nicht feststellen kann. Die Vergleichende Genozidforschung macht genau dies. Kritik über die angeblich damit verbundene Gleichsetzung ist deshalb polemisch und ideologisch, weder wissenschaftlich noch intellektuell redlich. Wir brauchen nicht weiter darauf eingehen.

Wenn man nun das nationalsozialistische Eroberungs- und Vernichtungsprogramm als zutiefst kolonial begreift, basierend auf ähnlichen Konzepten von Rasse und Raum, dann stellt sich die Frage, wie man historisch die offensichtlichen Unterschiede bewältigen kann, ohne die Verbindungslinien zu verwischen. Ich habe an anderer Stelle (Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51:12 (2003), S. 1098-1119) von einer Genealogie des genozidalen Gedankens gesprochen, die man über den Siedlerkolonialismus bis zum Nationalsozialismus verfolgen könne. Die Suche nach Siedlungsland in Amerika, Australien und Afrika ist dabei funktionsäquivalent zum Lebensraum im Osten Europas während des Dritten Reiches. Hinsichtlich der Formen und Praktiken der Gewalt lässt sich eine immer großflächigere und bürokratisiertere Anwendung von Gewalt beobachten, abhängig vom historischen Entwicklungsstand des (europäischen) Staates.

Dies ist eine historische Entwicklung, ein Verweis auf Ursprünge und Vorläufer, eine Genealogie eben, nicht aber die Begründung einer Kausalität oder einer monolinearen Kontinuität mit dem Charakter der historischen Unvermeidlichkeit. Innerhalb dieser Genealogie kommt dem Krieg gegen die Herero und Nama eine herausgehobene Bedeutung zu, da wir es mit einem kolonialen Pazifizierungskrieg zu tun haben, einer vierjährigen koordinierten Aktion, einem veritablen Krieg. Zudem kombinierte dieser Krieg das genozidale Massaker, die ‚ethnische Säuberung’ und die Vernichtung durch Vernachlässigung in Lagern – ebenfalls Phänomene, auf die wir während des Zweiten Weltkriegs wieder treffen. Im ersten deutschen Genozid tritt das historische Phänomen des Völkermords erstmals in die deutsche Geschichte ein. Und dieser Völkermord wird nicht vertuscht, er ist extrem populär. Gustav Frenssens Abenteuerbuch “Peter Moors Fahrt nach Südwest” ist das erfolgreichste Jugendbuch bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Darin wird der Völkermord offen mit der fehlenden “Kulturleistung” der Herero begründet. Keine Brunnen gebohrt und keine Häuser gebaut hätten sie und deshalb den Untergang verdient.

Exterminatorische Rhetorik hat es schon immer gegeben, im Falle der Herero und Nama wurde sie jedoch auch in die Praxis umgesetzt. Wenn man davon ausgeht, dass der Tabubruch darin besteht, nicht nur von Vernichtung zu reden, sondern sie in Lagern und Massakern auch umzusetzen, dann wurde er in den Kolonien begangen. Deutsch-Südwestafrika scheint mir das Verbindungsglied zu sein zwischen der kolonialen Gewalt- und Vernichtungsgeschichte und der deutschen Geschichte und letztendlich dem Nationalsozialismus. Es ist aber über die Mordpolitik hinaus auch bedeutsam als Schauplatz des ersten deutschen Experiments mit dem Rassenstaat. Beides ist Ausdruck eines radikalen Kolonialismus und Beleg dafür, dass Deutschland in dieser Hinsicht den Anschluss an den europäischen Kolonialismus geschafft hatte. Die Radikalität begründet sich zum nicht geringen Teil gerade aus dem Versuch, aufzuholen, es ‚besser’ zu machen als die anderen. In diesem Sinne war die nationalsozialistische Besatzungs- und Ausbeutungsplanung ein zweiter Versuch.

Diese These wird immer wieder mit dem Hinweis diffamiert, dass andere europäische Staaten noch drastischere Erfahrungen mit dem Kolonialismus gemacht hätten, es dort aber keine vergleichbaren Verbrechen wie die des Dritten Reiches gegeben habe. Dies verwechselt zum einen Kontinuität mit Kausalität. Zum anderen übersieht es die wichtige Unterscheidung, die zu machen ist zwischen der Frage, warum und wie es in Deutschland zur Machtübernahme der Nationalsozialisten kommen konnte, und der Frage, wie die Verbrechen umgesetzt wurden und wieso sie auf so weitgehende Zustimmung trafen. Der postkoloniale Ansatz erklärt nicht – und will es auch gar nicht -, warum die Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht kamen, sondern fragt nach den Vorbildern und Anregungen, auf die sie zurückgreifen konnten, nachdem die Entscheidung für einen neuen Versuch mit Kolonialismus gefallen war.

Vor allem aber bettet der postkoloniale Ansatz die nationalsozialistischen Verbrechen ein in die Geschichte des Kolonialismus und des Genozids. Er versteht sie als – sicherlich extrem radikalisierte Ausprägung – eines weltgeschichtlichen Phänomens, nämlich des Siedlungskolonialismus und des ihm inhärenten Gewaltpotentials. Letzteres ist globalgeschichtlich nicht zu verstehen, wenn man seine radikalste Ausprägung aus der Untersuchung ausklammert. Gleichermaßen läßt sich eine Globalgeschichte des Genozids nicht schreiben ohne Rekurs sowohl auf die traditionell als kolonial betrachteten Völkermorde als auch auf die nationalsozialistischen. Ruanda hat gezeigt, dass sich auch nach dem Holocaust Völkermorde ereignen können, die Elemente von beiden enthalten.

Jürgen Zimmerer ist Direktor des Centre for the Study of Genocide and Mass Violence, University of Sheffield.

Birthe Kundrus: Entscheidende Unterschiede.

Für die Frage nach den Verbindungen zwischen Kolonialismus und NS ist der Genozid-Begriff wenig hilfreich (Vortragsmanuskript)

Es ist zweifellos sinnvoll, Kolonialismus und Nationalsozialismus als Herrschaftsformen in ihren Gewaltdimensionen zu vergleichen. Ebenfalls lohnt es sich, darüber nachzudenken, welche neuen Erkenntnisse eine derartige Übertragung von Analysekategorien zum Kolonialismus in die Zeit des “Dritten Reiches” bringen kann. Jürgen Zimmerer gebührt das Verdienst, diese wichtigen Debatten angestoßen zu haben. Allerdings greift die Diskussion konzeptionell, methodisch und argumentativ an manchen Stellen zu kurz. Das Konzept “Genozid” führt uns in die Irre. Methodisch würde ich beim Thema “Verbindungslinien” zwischen Kontinuitäten, Parallelen und Transfers unterscheiden wollen – eine Unterscheidung, auf die auch meine Antwort gründet, dass es zwar einige Analogien zwischen dem exzessiven Gewalteinsatz in Namibia und beim deutschen Ostfeldzug gibt, beide Ereignisse aber jeweils anderen Logiken folgten und anderen Dynamiken entsprangen. Nicht zuletzt halte ich eine betont nationalgeschichtliche Perspektive für eine Verengung.

Zwei Fragen versuche ich im Folgenden zu beantworten: 1. Warum soll der Mord an den Herero und Nama als erster deutscher Genozid gelten? 2. Warum hat der Kolonialkrieg eine große Bedeutung für den NS-Vernichtungskrieg?

1. Erster deutscher Genozid?

Nach Jürgen Zimmerer sind es zwei Faktoren, die die Gewaltereignisse von 1904-1908 in Deutsch-Südwestafrika aus der Reihe der zeitgenössischen Kriege herausheben und in eine Verbindungslinie mit der deutschen Kriegführung im Osten 1939-1945 bringen sollen: die Systematik, mit der in “Südwest” gebrandschatzt und gemordet wurde, und das aus dieser Systematik und der Intentionalität dieser Tat resultierende Gesamtbild, das sich als Genozid klassifizieren lasse, analog zur UN-Genoziddefinition. Aber stimmt das? Lässt sich die massenhafte entgrenzte Gewalt, die Brutalität in Namibia als überwiegend systematisch und intentional kennzeichnen? Nein. In beiden Fällen haben wir es mit Ereignissen massenhafter exzessiver Gewalt zu tun. In beiden Fällen wurden Gewalttaten erlaubt, die andernorts verboten waren, und Gewaltexzesse diktiert, die normative Grenzen überschritten und deshalb besonderer Legitimation bedurften. Die Dynamiken dieser Entregelung waren aber sehr unterschiedlich, wir haben es hier mit zwei sehr ungleichen Szenarien exzessiver Gewaltentfaltung zu tun. Und weil die Wege zu dieser Brutalität, ihre Dimensionen, Logiken sich unterschieden, erscheint es verfehlt, beide Ereignisse auf denselben Typus festlegen zu wollen: den einer genozidalen Kriegführung. 1

Die Genozid-Definition ist aus vielerlei Gründen wenig hilfreich für eine historische Gewaltforschung. Mein Haupteinwand gegen den Begriff ist, dass er uns ein Bild von exzessiver Gewalt vermittelt, das die Intention der Täter in den Mittelpunkt stellt, andere Faktoren aber, insbesondere den situativen Faktor, das Kontingente, das Unvorhergesehene, das Chaos ausblendet. 2 Der Terminus Genozid suggeriert: Megagewaltereignisse dieser Art, Völkermorde, basierten hauptsächlich auf strategischer Planung, zielgerichteter Intention und abwägendem Kalkül. Das kann so sein, im Fall des Krieges gegen die Herero jedoch sind diese Momente nicht so hoch zu veranschlagen, wie Jürgen Zimmerer annimmt.

Als der Krieg im Januar 1904 ausbrach, war die Erwartungshaltung der militärischen und politischen Führung in Berlin klar: rasche Entwaffnung und Niederschlagung des “Aufstandes”. 3 Die Ereignisse sollten sich aber anders entwickeln. Es lassen sich mehrere Faktoren zur Eskalation nachzeichnen:

  • 1. Faktor zur Radikalisierung: das Feindbild. Der Befehlshaber vor Ort, Theodor Leutwein, hielt die Genfer Konvention für nicht anwendbar auf dem afrikanischen Schauplatz, er unterschied nicht zwischen Nichtkombattanten und Kombattanten und ließ in der Regel keine Kriegsgefangenen machen. 4 Diese systematische Brutalisierung seiner Soldaten unterscheidet ihn kaum von seinen europäischen oder amerikanischen Kollegen und ist deshalb noch keineswegs gleichzusetzen mit einer Vernichtungskriegführung, sehr wohl aber mit einer ersten Entgrenzung von Krieg. 5
  • 2. Faktor: die Zeit. Die militärische Führung ließ die Macht nicht vor Ort, sondern stellte sie unter den Befehl des Großen Generalstabes (8.2.1904). Denn Leutwein hatte in den Augen Berlins versagt. Er hatte die Herero kriegsmüde machen wollen – was Zeit gebraucht hätte, die ihm der Generalstab aber nicht zugestehen wollte. Eine klassische Situation für asymmetrische Kriege: die knappste Ressource des Starken ist Zeit. Denn er ist zum Sieg verdammt. Hingegen gilt: Solange der Schwache nicht verliert, hat er gewonnen.
  • 3. Faktor: persönliche Dispositionen und Interessenlagen. Lothar von Trotha, ein rassistischer Hardliner, wurde zum Kommandeur ernannt und erweiterte die Befehle Leutweins, indem er noch vor seiner Ankunft im Juni 1904 anordnete, alle bewaffneten Rebellen ohne vorgängiges gerichtliches Verfahren erschießen zu lassen. 6 Gleichzeitig ließ er aber auch Kriegsgefangenenlager für 8.000 Herero einrichten. Diese Maßnahme spricht wiederum dafür, dass er Gegner zumindest zunächst am Leben lassen, sie festsetzen wollte – und damit gegen eine umfassende Vernichtungsabsicht zu diesem Zeitpunkt. Vermutlich lautete das strategische Ziel die Vernichtung der feindlichen Streitkräfte, die Gefangennahme möglichst vieler Nichtkombattanten und die dadurch mögliche völlige Unterwerfung der Herero.
  • 4. Faktor: die Situation. Die katastrophale Niederlage am Waterberg brachte ganz entgegen Trothas Intention keinen glorreichen Vernichtungssieg, auch wenn er die Herero de facto militärisch zerschlagen hatte. Hier bewies sich nicht deutsche militärische Kompetenz, sondern militärische Inkompetenz. Die Deutschen hatten nicht damit gerechnet, dass die Herero durch das Sandfeld Richtung britische Grenze marschierten. Die faktische Erfolglosigkeit ließ eine besondere Härte als probates Mittel erscheinen, den empfundenen Prestigeverlust vor Ort auszugleichen. 7
  • 5. Faktor: das Chaos. Frustrierte Hybris trieb nun von Trotha ebenso an wie die Direktiven der deutschen Militärkultur, nämlich bis zum totalen Sieg weiterzukämpfen. Der Auftrag der folgenden Wochen lautete Verfolgen und Bestrafen der “unbotmäßigen” Herero. Aber die deutschen Truppen waren erschöpft. Wie systematisch und effektiv das Verfolgen, Nachsetzen oder auch Abriegeln der Wasserlöcher in diesem Riesengebiet war, ist äußerst umstritten. 8 Es gab mit einiger Sicherheit keine Kampfverwicklungen mehr, sondern die Deutschen versuchten in der Regel, die fliehenden oder sich ergebenden Herero zu erschießen. 9 In diese Phase fällt der so genannte “Vernichtungsbefehl” vom Oktober 1904, der eigentlich eine Verlautbarung an die Herero war. 10 Hier gestand Trotha indirekt das militärische Scheitern seiner Taktik der Einkesselung ein, indem er nun nämlich auf eine ganz andere räumliche Orientierung setzte – von der Einkesselung der Feinde zu ihrer Vertreibung: “Das Volk der Herero muss jedoch das Land verlassen”. Insofern würde ich Boris Barth zustimmen, dass Trotha nunmehr eine Exterritorialisierung anvisierte. 11 Parallel jedoch versuchte er, noch der meisten Herero habhaft zu werden. Dieses Lavieren zwischen Vertreibung und Mord verstand die Truppe dahingehend, aufgegriffene Herero umzubringen.
  • 6. Faktor: Zögerliche Deeskalation. Nach vehementer Kritik aus verschiedenen Teilen der Öffentlichkeit beschloss die Reichsregierung, Trotha nicht mehr gewähren zu lassen. Er musste die Proklamation und seinen Befehl auf telegraphischen Gegenbefehl des Generalstabes aus Berlin zurücknehmen. Zudem wurde er angewiesen, mit Ausnahme der Rädelsführer das Leben der Herero zu schonen, sie zur Zwangsarbeit einzusetzen und hierfür geeignete Sammellager zu errichten. Die Verfolgung der Herero in der Omaheke wurde fortgesetzt.

Aufgrund dieses Gewaltszenarios lässt sich folgendes schlussfolgern:

  • 1. Der Krieg 1904 war wie fast alle Kolonialkriege ein asymmetrischer Konflikt, der sich durch strukturelle Ungleichartigkeiten 12 auszeichnet, etwa hinsichtlich Waffen, Mentalitäten oder Vorstellungen von Kriegführung. In ihm wurde die Unterscheidung zwischen Zivilisten und Kombattanten aufgehoben und er wurde von beiden Seiten mit äußerster Brutalität ausgefochten.
  • 2. Die meisten Herero fielen nicht in Kampfhandlungen, sondern wurden entweder von den Deutschen niedergeschossen oder starben weit weg von ihnen. Sie verhungerten und verdursteten in der Steppe, oder sie starben an Unterversorgung, Seuchen und Krankheiten in den Lagern. 13
  • 3. Der berüchtigte “Vernichtungsbefehl” vom August 1904 ist nicht der Auftakt, sondern eine weitere Stufe der militärischen Aktionen. Er ist kein Befehl zum Völkermord, er intendiert nicht die Entgrenzung von Gewalt, sondern die Begrenzung und Regelung: er erteilt nochmals eine carte blanche zum Töten von Männern, untersagt aber Massaker an Frauen und Kindern, um die Disziplin der Truppe sicherzustellen. Der “Befehl” sanktioniert damit die Praktiken, die schon ausgeübt worden waren. Er bestätigte sie genauso, wie er sie fürderhin erwartete. Das Ziel nach dem Fiasko am Waterberg war das Verschwinden der Herero – so oder so, über die Grenze oder durch Erschießen.
  • 4. Historiographisch ist es ein großes Problem, die Kriegführung und die Verhaltensweisen der Herero nachvollziehen zu wollen. Sie standen nach der Einkesselung am Waterberg vor einem unlöslichen Dilemma: entweder sie ergaben sich in die Hand des intransigenten Trotha oder flüchteten ins Sandfeld. Sie wählten das aus ihrer Sicht kleinere, aber risikoreiche Übel, die Flucht. Diese Entscheidung wiederum ließ bei Trotha die Idee Gestalt gewinnen, die Herero zu vertreiben.
  • 5. Trotha führte zwar wie alle deutschen Militärs seiner Zeit den Vernichtungsbegriff häufig im Munde. Letztlich aber scheint es, als ob die Bedeutungsoffenheit dieses Begriffes -zwischen Niederringung des Gegners und tatsächlicher physischer Auslöschung einer ganzen Gesellschaft – ihm als Möglichkeitsraum diente, in dem er seine Pläne und Befehle anordnete. 14
  • 6. Es gibt offenbar eine signifikant höhere Überlebensquote von weiblichen Herero (6 oder 7 zu 1). Diese Überlebensraten lassen vermuten, dass es eine Tendenz gab, Frauen eher als Männer gefangen zu nehmen. 15 Die Zahlen bestätigen den Eindruck einer Ambiguität der deutschen Kriegführung. Wie mit Frauen und Kindern umgegangen werden sollte, blieb offenbar unklar.
  • 7. Das scheint mir das Besondere am “Herero-Genozid” zu sein: Nur auf den ersten Blick bestätigt er die These von intentionalen Genoziden. Schaut man genauer hin, sieht man Lavieren und Unsicherheit und eine je nach Situation wieder neu formulierte Zielvorgabe. Dieselbe Ambiguität lässt sich vermutlich auch im Hinblick auf die Lager festhalten. Auch für diese ist es schwer zu sagen, wie systematisch oder unsystematisch das Sterben von Seiten der Deutschen betrieben oder hingenommen wurde, wie sehr Inkompetenz, Überforderung, Planlosigkeit die Szenerie beherrschten – oder tödliches Kalkül. Gerade wegen diesen Uneindeutigkeiten, wegen diesem Lavieren zwischen Vertreibung und Erschießen, Absicht und Überforderung, Unwillen und Unfähigkeit ist es aus meiner Sicht unabdingbar, sich vom Konzept des Genozids zu lösen und nicht weiter auf einem Modell zu beharren, in dem es einen Lenker gibt, der alle von vornherein umbringen wollte – und so geschah es. In der Regel geschieht es so eben nicht, sondern es gibt Eskalationen, Zusammenläufe, Kontingenzen, persönliche Dispositionen, die ganz wesentlich für Entgrenzungen oder Einhegungen sind. Für diese Dynamik sind die Geschehnisse in Afrika ein anschauliches Beispiel. Ausschlaggebend war nicht eine Vernichtungsabsicht von Trothas. Vielmehr zeigt der Herero-Krieg unterschiedliche Grade und Motive strategischer Kalkuliertheit, systematischen Mordens und unsystematischem Sterbenlassens.

Wie lässt sich nun der Hererokrieg in einer Gewaltgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts verorten? Darüber kann man im Augenblick nur spekulieren, es mangelt an systematischen Vergleichsanalysen. Einerseits ließe sich angesichts der Eskalation anführen, dass dieser Fall den “üblichen” kolonialen Gewaltrahmen sprengte und aus der imperialen Pazifizierungs- und Annexionsgewalt “herausragt” 16 . Aber worin läge dann dieser deutsche Sonderweg? Gemessen an der Zahl der Toten und an gegen die Zivilbevölkerung gerichteten Radikalisierungen wurde hier jedenfalls keine neue Stufe erreicht, blickt man auf andere koloniale Schauplätze, die Philippinen, Kuba oder auch Algerien. Immer wieder kam es zu Vertreibungen und Vernichtungszügen. Insofern könnte man andererseits zu der Überzeugung gelangen, dass die Ähnlichkeiten mit anderen Kolonialkriegen überwiegen. Es gab eine übereinstimmende Ausgangskonstellation der Pazifizierung, der Asymmetrie und damit auch der entgrenzten Gewalt, aber im einzelnen Fall auch unterschiedlich wirksame situative Faktoren. 17

Damit ließe sich formulieren: die exzessive Gewalt in Namibia war kein Anfang, sondern ein Endpunkt von grausamen savage little wars des 19. Jahrhunderts – mit den Deutschen auch auf diesem Gebiet als imperial late comer. 18 Sowieso sollte man, bevor man den zweiten Schritt unternimmt, den ersten wagen, nämlich den Krieg in Deutsch-Südwestafrika in seiner Epoche zu kontextualisieren. Das hieße nach Verbindungslinien mit anderen deutschen 19 wie nichtdeutschen kolonialen counter insurgencies zu fahnden und dabei auch zu berücksichtigen, wie sehr das Militär in einem transnationalen Zusammenhang agierte, indem nicht nur auf eigene Erfahrungen zurückgriffen wurde, sondern auch auf die anderer Staaten. 20 Die Deutschen werteten offenbar intensiv den südafrikanischen Burenkrieg 21 aus, bei der Intervention im chinesischen Boxerkrieg 22 agierte man gleich als alliierte Streitkraft. Im Anschluss an diese intra- und international vergleichenden Ergebnisse ließe sich dann fragen, welche Spuren Kolonialkriege generell, und nicht nur die deutschen, bei den jeweils kriegführenden Nationen in nichtkolonialen Kriegen hinterlassen haben. Welche Wege führten von den Kolonialkriegen westlicher oder östlicher Mächte zum Ersten Weltkrieg, zu den Kriegen der Zwischenkriegszeit oder zum Zweiten Weltkrieg? 23 Diese Erweiterung einer rein nationalen Perspektive erscheint mir ebenso unumgänglich wie das Aufbrechen linearer Konstruktionen von Geschichtsverläufen.

Gehen wir aber für den Moment noch einen Schritt zurück und bleiben im nationalen Rahmen. Wie ist es dann um die “afrikanischen Wurzeln” des Holocaust und des Vernichtungskrieges bestellt? Lassen sich die deutschen Massenverbrechen auch aus der deutschen Kolonialgeschichte erklären?

2. Der Kolonialkrieg – bedeutsam für den NS-Vernichtungskrieg?

Die These vom kolonialen Ideengeber und Bindeglied behauptet, es gebe eine Kontinuität der Gewalt. Die Stetigkeit bestünde in einer Brutalisierung, im Sinne eines den Krieg gegen die Herero überdauernden Abbaus von Hemmungen gegenüber gewaltsamen Verhalten nicht allein gegen Afrikaner, sondern auch gegen andere “Rassen”, insbesondere Juden und “Slawen”. Mit anderen Worten: es habe eine spezifisch deutsche genozidale Disposition der Kriegführung gegeben, die ihren Anfang im Völkermord an den Herero nahm und ihr Ende im Zweiten Weltkrieg fand. Aber es ist schwer, valide einzuschätzen, ob die Deutschen etwas lernten aus den Geschehnissen im südlichen Afrika und ob es dann die Einsicht war, dass man ganze Völker umbringen kann. 24 Diese Erkenntnis hat die Menschheit wohl seit der Antike verinnerlicht. Außerdem: Warum hat der vorgebliche “Tabubruch” nicht bei den Ländern mit der längsten und langfristig gewaltreichsten Kolonialtradition verfangen? 25

Umgekehrt gilt: Wenn man feststellt, dass alle europäischen Staaten ein exzessives koloniales Gewalterbe aufweisen, allein aber die Deutschen mit dem Zweiten Weltkrieg das größte Maß an Zerstörung innerhalb Europas entfesselten, dann rückt das koloniale Erbe als Beschleunigungsmoment in den Hintergrund und offenbar andere Faktoren für das Ausscheren Deutschlands in den Vordergrund. Angemessen wären auch für diesen Gegenstand eine Kontextualisierung und ein Abwägen kolonialer und nichtkolonialer Elemente.

Es ist ein ungemein schwieriges Unterfangen, Traditionen von Gewalt – Haltungen wie Praxen -, bestimmen zu wollen. Es stellt sich die Frage, ob und wie denn die kolonialen Gewaltpraxen und -einstellungen in das Gedächtnis des Militärs, in Ausbildung und Weltbild dieser Institution eingeflossen sind. Sind koloniale Dispositionen im Ersten Weltkrieg ausgeübt worden, haben sie sich in den Kämpfen der Freikorpsverbände Bahn gebrochen, haben sie im Mantel der Zivilität bis 1935 fortexistiert und dann positiv konnotiert und sanktioniert 1939/1941 eine Wiederbelebung erfahren? Und wie ließe sich ein derartiger Verlauf belegen? Kurz: Was sind die Mechanismen der Weitergabe von Gewalterfahrungen? Hierin liegt die theoretische und methodische Herausforderung dieser Kontinuitätsthese, der eine zweite Herausforderung auf dem Fuße folgt: nämlich wie sich dieser Kern, diese genozidale Disposition unter den Bedingungen eines Wechsels der Schauplätze, von Übersee nach Europa, erhielt, kurz: wie es also nicht nur um das Fortbestehen in der Zeit, sondern auch im Raum bestellt war.

Zweitens würde ich Kontinuitäten von Transfers unterscheiden. Bei Transfers stehen weniger die Beharrungskräfte der Vergangenheit, als deren Rezeption durch die Nachkommen im Mittelpunkt. Also nicht, ob die Deutschen in ihrem Gewaltauftreten Großbritannien, das Spätosmanische Reich oder Stalin imitierten, nicht, wie die Briten tatsächlich Indien verwalteten, nicht, wie die Türken tatsächlich die Armenier umbrachten oder wie die Sowjetunion tatsächlich Vertreibungen auf ihrem Gebiet realisierte, wäre hier von Interesse, sondern wie im Prozess der Auseinandersetzung mit diesen Ideen, Einrichtungen und Taten der Nationalsozialismus seine eigene Gewaltförmigkeit mitproduzierte und dynamisierte.

Um eine dritte systematische Ebene geht es, wenn wir von Parallelen, von strukturellen Analogien sprechen. Dann würde die Frage lauten, ob sich in der NS-Kriegführung Muster der deutschen bzw. europäischen Kolonialkriegführung wieder finden. Auf dieser Ebene lassen sich durchaus Parallelen zwischen der Kriegführung gegen die Herero und gegen die Sowjetunion finden: Etwa die Grundstruktur von Eskalationsstufen, ähnliche Erwartungshaltungen hinsichtlich eines schnellen und raschen Sieges, ein möglichst rücksichtsloses Vorgehen, gespeist auch aus Rassismus und Überlegenheitsgefühlen, eine überwiegend fehlende Empathie mit dem Gegner, die Zerstörung von Lebensgrundlagen, die Hereinnahme von nichtdeutschen Hilfstruppen oder die berühmte deutsche Auftragstaktik, die den Soldaten vor Ort viel Spielraum für eigene Initiativen ließ.

Aber die ausschlaggebenden Konstellationen und Logiken der beiden Kriege unterschieden sich, weshalb die deutsche Kriegführung im Osten ein ungleich größeres Destruktionsvermögen entwickelte:

  • 1. Auch wenn es um Eroberung und Unterwerfung ging, der Krieg gegen die UdSSR war kein asymmetrischer Konflikt. Gewiss mögen sich asymmetrische Strukturen, etwa der Partisanenkrieg, finden, die Grundstruktur war indes symmetrisch. Es handelte sich um einen staatlich getragenen Konflikt, ja mehr noch: Hier standen sich zwei Imperialmächte auf gleicher Augenhöhe gegenüber, die beide eine vielleicht nicht totale, aber doch erschöpfende Ressourcenmobilisierung und den Einsatz umfassend technisierter Massenheere veranlassten.
  • 2. Der Krieg gegen die Sowjetunion war als Vernichtungskrieg von Anfang an politisch gewollt. In einem politisch-militärischen Geflecht von Weisungen, Anordnungen, Belehrungen und Befehlen – z.B. Aufgabenabgrenzung zwischen Heer und Einsatzgruppen der SS, “Kommissarbefehl”, Aussetzung der kriegsgerichtlichen Ahndung von Verbrechen der deutschen Soldaten an der Bevölkerung, “Richtlinien für das Verhalten der Truppe in Rußland” 26 – setzten Wehrmacht und Heeresführung die Forderungen Hitlers und der NS-Spitze um: “rücksichtsloses und energisches Durchgreifen gegen bolschewistische Hetzer, Freischärler, Saboteure, Juden und restlose Beseitigung jedes aktiven und passiven Widerstandes” 27 . Auch wenn es situative Eskalationen oder Neuorientierungen gab, diese Zielvorgabe der ungehemmten und radikal ergebnisorientierten Gewaltanwendung blieb bestimmend. Es gab in Berlin nie die Überlegung auszusteigen, keine Intervention aufzuhören, kein kontrollierendes Domestizieren. Personelle Ablösungen mochten graduell etwas ändern, bewirkten aber keinen Richtungswechsel. Zugespitzt formuliert: Hier ging es nicht um das Versagen ziviler Einhegung, hier existierte überhaupt keine zivile Einhegung mehr. Und das ist ein zweiter entscheidender Unterschied. Weniger eskalierende Kriegserfahrungen, nicht die Frustration eines einzelnen Oberbefehlshabers, nicht die Fixierung, den Gegner bestrafen und sich rächen zu wollen, sondern die Kollektivvision eines immerwährenden deutschen Kampfes hielt das Rad der Gewalt am Laufen. 28 Im Osten wurde der Krieg politisch gewollt zum endgültigen Weltanschauungskampf, der Ausnahmezustand zum Normalzustand. Die politische Funktionalität entgrenzter Gewalt stand nicht mehr zur Debatte. 29 Das zur Norm erhobene Übermaß ist, so Michael Geyer, der Schlüssel zur deutschen Kriegführung. 30
  • 3. Auch mit Blick auf den Holocaust lassen sich zunächst strukturelle Parallelen konstatieren: der Krieg öffnete einen Möglichkeitsraum, hier wie dort waren die Herero bzw. die Juden ein Problem. Beide sollten verschwinden, eine Lösung dazu wurde in Exterritorialisierungen gesucht.

Aber es bedurfte für das Destruktionsvermögen der Shoah einer spezifischen Konstellation. Wie diese genau zu konturieren wäre, darüber bestanden in der Holocaustforschung lange Zeit Kontroversen; inzwischen gilt ein enger Zusammenhang von Antisemitismus – genauer eines sich aus eigenen Traditionsbeständen speisenden Erlösungsantisemitismus -, Kriegsführung, Besatzungspolitik, “Umvolkungsplänen” (“Generalplan Ost”) und Ernährungspolitik als wahrscheinlich. 31 Alle diesen Faktoren mündeten letztlich in ein hochverdichtetes und hochsystematisches Töten – unterschiedslos und geschlechtsübergreifend. 32 Weder führte also die Angst um einen eventuellen Prestige- oder Herrschaftsverlust wie in den Kolonien zu den Massentötungen in Osteuropa, noch ergaben sie sich aus Kampfhandlungen. Der reale jüdische Widerstand spielte für die Vernichtungspraxis keine Rolle.

Zusammengefasst war und ist kriegerische exzessive Gewalt ein höchst variables Ereignis, auch wenn das Ergebnis immer gleich entsetzlich erscheint. Mag das deutsche Morden in Afrika nicht auf systematische Ausrottung angelegt gewesen sein, so bleibt es eine verbrecherische Kriegführung. Theoretische Vorannahmen über das Wesen entgrenzter Gewalt helfen nur dann weiter, wenn sie sich empirisch bewähren und vor allem die Prozesshaftigkeit dieser Gewalt zu erfassen vermögen. Deshalb ist auch die Rekonstruktion der Geschehnisse so dringend.

Die Bedeutung der deutschen Kolonialgeschichte für die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert wird nicht geschmälert, wenn sich die Verbindungslinien zwischen ihrer Gewaltförmigkeit und dem eliminatorischen Ostkrieg der Nationalsozialisten als eher dünn erweisen. Vielleicht sollten wir schlicht zeitnäher suchen. Dann wäre zu klären, inwiefern die deutschen Aktionen in eine Art europäisches oder west-östliches colonial archive eingegangen sind. Und zweitens wäre der Blick stärker auf den Ersten Weltkrieg zu richten.

Anmerkungen:

1 Der Begriff des Vernichtungskrieges meint hier die totale Vernichtung der Streitkräfte und der Zivilbevölkerung eines Gegners. Zum Konzept des Vernichtungskrieges vgl. Jan Philipp Reemtsma, Die Idee des Vernichtungskrieges. Clausewitz – Ludendorff – Hitler, in: Hannes Heer/Klaus Naumann (Hrsg.), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944, Hamburg 1995, S. 377-401; Robert T. Foley, From Volkskrieg to Vernichtungskrieg. German concepts of warfare 1871-1935, in: Anja V. Hartmann/Beatrice Heuser (Hrsg.), War, Peace and World Orders in European History, London/New York 2001, S. 214-225.
2 Diese Zentrierung auf eine individuell rückführbare Absicht ist aus der juristischen Genese und Perspektive der Genozid-Konvention verständlich. Die wissenschaftliche Analyse genozidaler Ereignisse zeigt aber, dass die Interessenslagen von Tätern viel weniger rekonstruierbar sind als deren Taten oder Legitimationen.
3 Beste Darstellung der Abläufe bei Isabel V. Hull, Absolute Destruction. Military Culture and the Practices of War in Imperial Germany, Ithaca and London 2004; einschlägig Horst Drechsler, Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft. Der Kampf der Herero und Nama gegen den deutschen Imperialismus (1884-1915), Berlin 1984².
4 Im Gegensatz zu Trotha aber strebte er Verhandlungen mit den Gegnern an, wollte das Überlaufen begünstigen, anerkannte als militärischer Führer den Status der Kriegsgefangenschaft, auch wenn er Rücksichtnahmen für Duselei und realitätsfern hielt. Rassengegensätze waren für ihn keine erbbiologischen Unterschiede, sondern Interessengegensätze. Robert von Friedeburg, Konservatismus und Reichskolonialrecht,. Konservatives Weltbild und kolonialer Gedanke in England und Deutschland vom späten 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, in: Historische Zeitschrift 263 (1996), S. 345-393, hier S. 369.
5 Um nur ein Beispiel zu zitieren: Brigadegeneral Jacob Smith hatte im Jahr 1899 amerikanische Truppen gegen widerständige Filipinos mit der Weisung auf den Weg geschickt: “Ich will keine Gefangenen. Je mehr Ihr tötet und niederbrennt, desto mehr macht Ihr mir eine Freude. Macht das Hinterland von Samar zu einer heulenden Wildnis.” Zit. nach Bernd Greiner, Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam, Hamburg 2007, S. 29,Vgl. auch Robert Gerwarth/ Stephan Malinowski, Der Holocaust als “kolonialer Genozid”? Europäische Kolonialgewalt und nationalsozialistischer Vernichtungskrieg”, in: Geschichte und Gesellschaft, 33 (2007), 3, S. 439-466. Weitere Beispiele für eine ähnliche Kriegskonstellation und einer hohen Anzahl von zivilen Toten sind der kubanische Unabhängigkeitskrieg und das Regime des spanischen Generals und Gouverneurs Valeriano Weyler y Nicolau oder einzelnen Massaker an Native Americans im Rahmen der kriegerischen Konflikte bei der Landnahme der Weißen in Nordamerika Generell Dierk Walter, Warum Kolonialkrieg?, in: Thoralf Klein/Frank Schumacher (Hg.), Kolonialkriege. Militärische Gewalt im Zeichen des Imperialismus, Hamburg 2006, S. 14-43. Er schlägt als Definition vor: “Kolonialkrieg ist die in den Formen des kleinen oder asymmetrischen Krieges ausgeübte Gewalt an der kolonialen Peripherie”. Das Ausschlaggebende wäre mithin der Kolonialismus als Herrschaftsform, nicht die Art der Kriegführung.
6 Jürgen Zimmerer, Krieg, KZ und Völkermord in Südwestafrika. Der erste deutsche Genozid in: ders., Joachim Zeller (Hg.), Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904-190) in Namibia und seine Folgen, S. 45-63,, hier S. 50; Hull, S. 49.

7 Hull zitiert von Trotha aus dem Jahre 1909, als dieser behauptete, er hätte Verhandlungen zugestimmt, hätten sich die Herero am Waterberg ergeben.

8 Brigitte Lau, Uncertain Certainties, in: Mibagus 1989, Nr. 2, S. 4-8. Hull spricht von lediglich zwei Verfolgungspatrouillen, auch Estorff , der eine der Patrouillen leitete, schilderte, wie sich einzelne Trupps an den Deutschen vorbeischlichen bzw. wie die aufkommende Regenzeit die Chancen der Herero auf das Gelingen ihrer Flucht vergrößerte. Ludwig von Estorff, Wanderungen und Kämpfe in Südwestafrika-Ostafrika und Südafrika 1894-1910, hrsg. von Christoph-Friedrich Kutscher, Wiesbaden o. J. (1968), S. 117.

9 Hull, S. 45.

10 Am 2. Oktober 1904 erließ General von Trotha folgende Proklamation an das Volk der Herero:
“Ich, der große General der Deutschen Soldaten, sende diesen Brief an das Volk der Herero. Die Herero sind nicht mehr deutsche Untertanen. Sie haben gemordet und gestohlen, haben verwundeten Soldaten Ohren und Nasen und andere Körperteile abgeschnitten, und wollen jetzt aus Feigheit nicht mehr kämpfen. Ich sage dem Volk: Jeder, der einen der Kapitäne an eine meiner Stationen als Gefangenen abliefert, erhält tausend Mark, wer Samuel Maharero bringt, erhält fünftausend Mark. Das Volk der Herero muss jedoch das Land verlassen. Wenn das Volk dies nicht tut, so werde ich es mit dem Groot Rohr dazu zwingen. Innerhalb der Deutschen Grenzen wird jeder Herero mit und ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber oder Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück, oder lasse auf sie schießen. Dies sind meine Worte an das Volk der Herero. Der große General des mächtigen Deutschen Kaisers.”
Ergänzt wurde die Proklamation durch den der eigenen Truppe zu verlesenden Zusatz:
“Dieser Erlaß ist bei den Appells den Truppen mitzuteilen mit dem Hinzufügen, daß auch der Truppe, die einen der Kapitäne fängt, die entsprechende Belohnung zu teil wird und daß das Schießen auf Weiber und Kinder so zu verstehen ist, daß über sie hinweggeschossen wird, um sie zum Laufen zu zwingen. Ich nehme mit Bestimmtheit an, daß dieser Erlaß dazu führen wird, keine männlichen Gefangenen mehr zu machen, aber nicht zu Grausamkeiten gegen Weiber und Kinder ausartet. Diese werden schon fortlaufen, wenn zweimal über sie hinweggeschossen wird. Die Truppe wird sich des guten Rufes der deutschen Soldaten bewußt bleiben.” BA Berlin, RKA, R 10.01, 2089, Bl. 23, Handschriftliche Abschrift der Proklamation an das Volk der Herero und des Zusatzbefehls an die Kaiserliche Schutztruppe, 2.10.1904.
.11 Boris Barth, Genozid. Völkermord im 20. Jahrhundert. Geschichte. Theorien. Kontroversen, München 2006, S. 128-136.
12 Vgl. Dierk Walter, Symmetry and Asymmetry in Colonial Warfare ca. 1500-2000. The Uses of a Concept, IFS Info 3, 2005, Oslo 2005.
13 Wir wissen nicht, welchen Umfang die in Namibia verübten Gewaltexzesse hatten, genauere Todeszahlen der Herero sind Spekulation, die Schätzungen reichen von 50% bis 80%. Hull, Destruction, S. 88-90.
14 Die Annahme, mit dem Zurücktreiben der Frauen und Kinder in die Steppe habe von Trotha deren Tod durch verdursten und Entkräftung intendiert, erschließt sich nicht aus der Proklamation. Was mit den Frauen und Kindern geschehen soll, wird in diesem Schreiben ebenso wenig thematisiert wie das Schicksal derjenigen Männer, die das Land nicht “verlassen” wollten. Diese “Leerstellen”, die für viele massenhafte Tötungsprozesse charakteristisch sind, verunmöglichen es, Völkermorde oder ähnliche Fälle entgrenzter Gewalt ausgerechnet über das labile Kriterium “Intentionen” festklopfen zu wollen.
15 Hull, S. 54. In diese Spannungsverhältnis von widerstreitenden Normen, nämlich dem Gebot der Erbarmungslosigkeit (“nehme keine Weiber mehr auf”) und dem Verbot des Mordens an Frauen und Kindern (“keine Grausamkeit an Frauen und Kindern”) steht auch die Trothasche Proklamation.
16 Jürgen Zimmerer, Rassenkrieg und Völkermord. Der Kolonialkrieg in Deutsch-Südwestafrika und die Globalgeschichte des Genozids, in: Henning Melber, (Hg.), Genozid und Gedenken. Namibisch-deutsche Geschichte und Gegenwart, Frankfurt/M. 2005, S. 23-48, hier S. 48.
17 Zudem war die Grundkonstellation der koloniale Kontext. Die Proklamation von Trothas spiegelt diese koloniale Struktur, die Selbst- wie Fremdwahrnehmung als legitime Kolonialherrn und unbotmäßige Kolonisierte wider. Daher spielten auch die für viele Kolonialkriege zu beobachtende Impulse der Rache und des Bestrafens eine große Rolle. Schließlich: als klassischer kolonialer Pazifizierungsfeldzug ging es politisch immer noch um das Wiederherstellen von “Ruhe und Ordnung”.
18 Die weitergehende Frage wäre dann, ob sich eine Korrespondenz zwischen zivil eingehegten metropolitanen Gesellschaften, in denen eine Stigmatisierung der Gewalt vorherrscht bzw. allmählich voranschreitet, und deren enthemmtem Ausleben an den Peripherien auf fremden Boden herstellen lässt. Vgl. Gerwarth/Malinowski, S. 450.
19 Erste Ansätze dazu bei Susanne Kuss, Kriegführung ohne hemmende Kulturschranke: Die deutschen Kolonialkriege in Südwestafrika (1904-1907) und Ostafrika (1905-1908), in: Thoralf Klein/Frank Schumacher (Hg.), Kolonialkriege. Militärische Gewalt im Zeichen des Imperialismus, Hamburg 2006, S. 208-247. Im Krieg gegen die Hehe nahmen die Deutschen Frauen und Kinder gefangen, weil dies, wie sie festgestellt hatten, die Männer zur Aufgabe des Kampfes veranlasste. Gleichzeitig wurden jedoch systematisch Hungersnöte erzeugt, indem alle Nahrungsmittel vernichtet und die Felder verwüstet wurden. Hinter dieser Art einer “punktuellen Vernichtung im Krieg” (Thoralf Klein) stand aber weder die Ausrottung der Hehe – an sie wurde gleich nach Beendigung des Krieges Saatgut verteilt für die Wiederbestellung der Felder – noch hatte sich der Krieg von einem politischen Ziel, nämlich der Befriedung der Kolonie, vollständig abgelöst. Thomas Morlang, “Die Wahehe haben ihre Vernichtung gewollt.” Der Krieg der “Kaiserlichen Schutztruppe” gegen die Hehe in Deutsch-Ostafrika (1890-1898), in: Thoralf Klein/Frank Schumacher (Hg.), Kolonialkriege. Militärische Gewalt im Zeichen des Imperialismus, Hamburg 2006, S. 80-108.
20 Gerwarth/Malinowski, S. 447, verweisen in diesem Zusammenhang auf den Begriff des “colonial archive”.
21 Wenngleich die Übertragungsfähigkeit auf den europäischen Schauplatz als eher begrenzt eingeschätzt wurde, so Cord Eberspächer, “Albion zal hier ditmaal zijn Moskou finden!” Der Burenkrieg (1899-1902), in Thoralf Klein/Frank Schumacher (Hg.), Kolonialkriege. Militärische Gewalt im Zeichen des Imperialismus, Hamburg 2006, S.182-207, hier S. 196-197.
22 Vgl. Thoralf Klein, Straffeldzug im Namen der Zivilisation. Der Boxerkrieg in China (1900-1901), in: Thoralf Klein/Frank Schumacher (Hg.), Kolonialkriege. Militärische Gewalt im Zeichen des Imperialismus, Hamburg 2006, S. 145-181; den diesen Aspekt eher vernachlässigenden Band: Mechthild Leutner/Klaus Mühlhahn (Hg.), Kolonialkrieg in China. Die Niederschlagung der Boxerbewegung 1900-1901, Berlin 2007.
23 “Hinsichtlich der Gewalt, die der Zivilbevölkerung in einem Krieg droht, der die Grenzen zur kämpfenden Truppe auflöst, wurden die Europäer im Ersten Weltkrieg eingeholt von ihrer eigenen Vergangenheit und zugleich von ihrer gegenwärtigen Praxis außerhalb Europas.” Dieter Langewiesche, Eskalierte die Kriegsgewalt im Laufe der Geschichte? In: Jörg Baberowski (Hg.), Modere Zeiten? Krieg, Revolution und Gewalt im 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 12-36, hier S. 29.
Hingegen interpretiert Hew Stachan, A General Typology of Transcultural Wars – The Modern Ages, in: Hans-Henning Kortüm, Transcultural Wars from the Middle Ages to the 21st Century, Berlin 2006, S. 85-1103, hier S. 94-97, die Barbarisierung der intrakulturellen Kriegführung in Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als vor allem hausgemachtes europäisches Phänomen. Er sieht den Kollaps der Trennung in eine europäische und koloniale Kriegführung weniger darin begründet, dass die koloniale entgrenzte Kriegführung nach Europa transportiert worden sei, sondern dass nichteuropäische Truppen auf dem Kontinent verwandt worden seien. Die Kolonien seien zwar in den 20er und 30er Jahren als Laboratorien etwa für die Wirkung von Bombardements benutzt worden, aber die Europäer hätten z.B. 1915 mit dem Einsatz von Gaswaffen ihre Neigung bewiesen, gerade untereinander rücksichtslos zu kämpfen. Auch eher skeptisch: Michael Hochgeschwender, Kolonialkriege als Experimentierstätten des Vernichtungskrieges?, in: Dietrich Beyrau/Michael Hochgeschwender/Dieter Langewiesche (Hg.), Formen des Krieges. Von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn u.a. 2007, S. 269-290. Morlang, Wahehe, S. 93-94, erinnert daran, dass schon die Franzosen während der Napoleonischen Kriege in Spanien bei einem Gegner, der sich nicht zum Kampf stellte, das Niederbrennen von Höfen und Ortschaften, die Verwüstung der Felder, Vernichtung des Viehs praktiziert hatten.
24 Im deutschen Militär scheint die zeitnahe Auswertung des Herero-Krieges begrenzt gewesen zu sein. Anerkannt wurde lediglich die Notwendigkeit, Infanterie und Kavallerie mit Maschinengewehren auszurüsten. Erwogen, aber nicht realisiert wurde die Aufstellung einer ständigen Eingreiftruppe für überseeische Einsätze. Grundkurs deutsche Militärgeschichte, Band 1: Die Zeit bis 1914. Vom Kriegshaufen zum Massenheer, München 2006, S. 476-478. Paul von Lettow-Vorbeck hingegen adaptierte das Modell der Guerilla, das er auf diversen kolonialen Schauplätzen kennen gelernt hatte, und wandte es als Kommandeur der deutschen Truppen in Ostafrika bis zum Waffenstillstand 1918 an – mit desaströsem Ausgang für seine einheimischen Truppen. Vgl. die allerdings unbefriedigende Biographie von Uwe Schulte-Varendorff, Kolonialheld für Kaiser und Führer. General Lettow-Vorbeck – Mythos und Wirklichkeit, Berlin 2006.
25 Gerwarth/Malinowski, S. 450; Pascal Grosse, What does German Colonialism have to do with National Socialism. A Conceptual Framework, in: Eric Ames, Marcia Klotz, Lora Wildenthal (Hg.), Germany’s Colonial Pasts, Lincoln/London 2005, S. 115-134; Hochgeschwender, Kolonialkriege, S. 271.
26 Vgl. Manfred Messerschmidt, Ideologie und Befehlsgehorsam im Vernichtungskrieg, in: ders. Militarismus, Vernichtungskrieg, Geschichtspolitik. Zur deutschen Militär- und Rechtsgeschichte, Paderborn u.a. 2006, S. 221-244, hier S. 230-231.
27 Richtlinien für das Verhalten der Truppe in Rußland, 19.05.1941. Zit. nach ebd., S. 230. Pars pro toto: Befehl des Generalfeldmarschall von Reichenau vom 10.10. 1941:
“Betr.: Verhalten der Truppe im Ostraum
Hinsichtlich des Verhaltens der Truppe gegenüber dem bolschewistischen System bestehen vielfach noch unklare Vorstellungen. Das wesentliche Ziel des Feldzuges gegen das jüdisch-bolschewistische System ist die völlige Zerschlagung der Machtmittel und die Ausrottung des asiatischen Einflusses im europäischen Kulturkreis. Hierdurch entstehen auch für die Truppe Aufgaben, die über das hergebrachte einseitige Soldatentum hinausgehen. Der Soldat ist im Ostraum nicht nur ein Kämpfer nach den Regeln der Kriegskunst, sondern auch Träger einer unerbittlichen völkischen Idee… Deshalb muss der Soldat für die Notwendigkeit der harten, aber gerechten Sühne am jüdischen Untermenschentum volles Verständnis haben. Sie hat den weiteren Zweck, Erhebungen im Rücken der Wehrmacht, die erfahrungsgemäß stets von Juden angezettelt werden, im Keime zu ersticken. Der Kampf gegen den Feind hinter der Front wird noch nicht ernst genug genommen. Immer noch werden heimtückische, grausame Partisanen und entartete Weiber zu Kriegsgefangenen gemacht…
Fern von allen politischen Erwägungen der Zukunft hat der Soldat zweierlei zu erfüllen:
1. die völlige Vernichtung der bolschewistischen Irrlehre, des Sowjetstaates und seiner Wehrmacht,
2. die erbarmungslose Ausrottung artfremder Heimtücke und Grausamkeit und damit die Sicherung des Lebens der deutschen Wehrmacht in Russland.
Nur so werden wir unserer geschichtlichen Aufgabe gerecht, das deutsche Volk von der asiatisch-jüdischen Gefahr ein für allemal zu befreien.” Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion. “Unternehmen Barbarossa” 1941. Hrsg. v. Gerd R. Ueberschär u. Wolfram Wette. Frankfurt a. M. 1991, S.285-286.
28 Vgl. auch Richard Bessel, Nazism and War, London 2004.
29 Vgl. auch Dirk van Laak, Über alles in der Welt. Deutscher Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert, München 2005, S. 153-155.
30 Konrad Jarausch/Michael Geyer, Zerbrochener Spiegel. Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert, München 2005, S. 155.
31 Einen knappen, aber konzisen Überblick über die Forschung gibt Dieter Pohl, Verfolgung und Massenmord in der NS-Zeit 1933-1945, Darmstadt 2003.
32 Mit anderen Worten: Auch für die Frage, wie es zur “Endlösung der Judenfrage” kommen konnte, gilt die Intention Hitlers als mittlerweile nachrangig. Das war nicht immer so, denkt man an den Streit zwischen “Funktionalisten” und “Intentionalisten”. Aber heute scheint die Suche nach einem “Führerbefehl” der Einsicht gewichen zu sein, dass es eine derartig eindeutige und zudem verschriftlichte Willensbekundung nie gegeben und man sich ein falsches Bild vom Ablauf des Holocaust gemacht hat.
Ab Herbst 1941 wurde das direkte Erschießen von Frauen und Kindern nicht nur nicht mehr untersagt wie 1904, sondern zum Gebot für die SS-Einsatzgruppen in der Sowjetunion. Nicht mehr die Vertreibung über die deutsche Grenze mit der möglichen, aber nicht sicheren Konsequenz eines Massensterbens, sondern die Sammlung, Konzentration und Ermordung aller Juden wurde zur Handlungsmaxime. Deshalb starb vermutlich die Mehrzahl der ermordeten Juden in face to face killings.

Birthe Kundrus ist Historikerin am Hamburger Institut für Sozialforschung.

Anschließende Podiumsdiskussion (7.2.2008):Jürgen Zimmerer:

Frau Kundrus’ Argument war, dass der Hererokrieg ein asymmetrischer Krieg gewesen sei, während es sich beim Ostfeldzug der Nationalsozialisten um einen symmetrischen Krieg gehandelt habe. Wenn dies das Hauptkriterium zur Unterscheidung ist, dann müsste aber erklärt werden, wo der Unterschied lag zwischen dem symmetrischen Krieg an der Westfront und dem ebenfalls symmetrischen Krieg an der Ostfront. Denn einen fundamentalen Unterschied gibt es dort ja offensichtlich, obwohl beides symmetrische Kriege waren. Die Unterscheidung sollte daher meiner Meinung nach nicht zwischen asymmetrisch und symmetrisch getroffen werden, sondern zwischen eingehegtem und entgrenztem Krieg. Nicht jeder asymmetrischer Krieg ist auch ein entgrenzter Krieg.

Kolonialkriege waren auf Grund der rassenideologischen Aufladung entgrenzte Kriege, und das ist der Ostfeldzug der Nationalsozialisten ebenfalls gewesen. In dieser Rassenideologie, die dem Anderen das Mensch-Sein abspricht, liegt eine fundamentale Ähnlichkeit zwischen den Kolonialkriegen und dem Krieg im Osten. Aus diesem Grund überzeugt mich das Argument mit dem asymmetrischen Krieg als Unterschied nicht.

Zur Prozesshaftigkeit von Genoziden: Die moderne Genozidforschung ist doch – wie die moderne Holocaustforschung – schon längst weg vom Modell des Führerbefehls, der zentral gesteuerten Anordnung, in dem kein Platz für Prozesshaftigkeit bleibt. Für die Genozide in traditionellen Kolonialkriegen und für den Krieg im Osteuropa geht man von einer ideologischen Aufladung aus, in der der Oberbefehlshaber oder die führende Gruppe ein “Machbarkeitsfenster” öffnet. In dieser Situation kommt dann der situative Kontext zum Tragen. Das ist auch beim Hererokrieg zu sehen. Es ist möglich, die Herero alle zu vernichten, deshalb kann von Trotha das tun, und deshalb wird es auch ausgeführt.

Betrachtet man die Philippinen – dieses Beispiel hat Frau Kundrus ja genannt -, dann lässt sich zeigen, dass die amerikanische Armee dort ähnlich brutal vorging wie die “Schutztruppe” in Deutsch-Südwestafrika. Nur wird diese teilweise von Washington zurückgerufen. Von Trotha jedoch wird von Berlin nicht gemaßregelt. Hier nimmt Frau Kundrus bei dem Versuch, den Genozid an den Herero zu widerlegen, die Propaganda von Trothas allzu wörtlich.

Wenn Frau Kundrus darauf hinweist, dass Frauen und Kinder laut dem so genannten “Vernichtungsbefehl” nicht erschossen werden sollten, so stimmt das schon. Aber der Befehl lautete, über deren Köpfe zu schießen, damit sie wieder in die Wüste flüchten. Und der Subtext dieses Befehls ist: Dort verdursten sie. Daraus zu konstruieren, dass man im Grunde die Frauen und Kinder schonen wollte, erscheint mir schwierig.

Zum Aspekt der nationalgeschichtlichen Verengung: Wer vertritt denn eigentlich die These, dass es sich um einen deutschen Sonderweg zum Genozid handelt? Es handelt sich hier ganz klar um ein europäisches Phänomen, das sich schon im Hererokrieg radikalisiert. Und deshalb ist der Hererokrieg wichtig für das Verständnis des Nationalsozialismus. Er ist auch deshalb wichtig, weil es beide Male die deutsche Armee ist, die diese Verbrechen begeht. Keineswegs handelt es sich jedoch um eine deutsche “genetische Disposition” zum Genozid oder Ähnliches.

Zu Frau Kundrus’ Einwand, der Genozidbegriff ließe Chaos und Kontingenz außer Acht: Die Genozidkonzeption tut dies eben nicht. Es geht lediglich um eine bestimmte Intentionalität der Vernichtung. Diese eröffnet Möglichkeitsräume, in denen sich dann auch der einzelne Täter vor Ort gerechtfertigt sehen kann.

Birthe Kundrus:
Sie sagten, die Intentionalität eröffne einen Möglichkeitsraum. Es ist jedoch nicht die Intentionalität, die einen solchen Raum eröffnet, sondern die Situation. Genauer: die Kriegssituation. Insofern würde ich dafür plädieren, sich vom Genozidbegriff zu lösen, der so stark auf die Intentionalität setzt, anstatt an situative Momente anzuknüpfen. Dann lässt sich sehen: Was ist wirklich passiert, wie lassen sich Eskalationsstufen rekonstruieren? Damit würde man sich auch endlich von der Frage lösen: “Haben wir es mit einem Genozid zu tun oder nicht?”

Zu Fragen wäre stattdessen: Worin bestehen die Ähnlichkeiten in den damaligen Kolonialkriegen? In Deutsch-Südwest bestand ein koloniales Setting, und es handelte sich um einen Pazifizierungskrieg. Die Hereros sollten für ihr unbotmäßiges Verhalten und den Mord an den Siedlern bestraft werden, und – das war die nächste Radikalisierungsstufe – für die deutsche Blamage am Waterberg. Das war es, was von Trotha umtrieb.

Diese Momente und situativen persönlichen Dispositionen sind aber im Genozidkonzept zu wenig repräsentiert. Anstatt von den Ereignissen auszugehen und daraus zu versuchen, verallgemeinerbare Erkenntnisse über diese Art von Megagewalt zu gewinnen, wird ein Konzept übergestülpt. Damit wird versucht, zwei Ereignisse in einen Zusammenhang zu stellen, die vielleicht bei näherer Betrachtung – wir machen das ja hier relativ unsystematisch – gar nicht so viel miteinander zu tun haben, außer dass es bestimmte Analogien gibt. Herr Zimmerer ist der Meinung, dass beide Ereignisse der gleichen Logik folgten. Ich bin jedoch der Ansicht, dass die Logiken sich extrem voneinander unterschieden.

Zum Aspekt der Asymmetrie: Kolonialkriege sind in der Regel asymmetrische Kriege. Herr Zimmerer selbst hat den Krieg in Osten als Kolonialkrieg bezeichnet. Wenn aber eine bestimmte Grundstruktur gar nicht vorhanden ist – in diesem Falle die symmetrische Auseinandersetzung bzw. für Kolonialkriege die asymmetrische Grundkonstellation eines Starken und eines Schwachen Kontrahenten -, dann lässt sich bereits ein fundamentaler Unterschied in der Grundkonstruktion feststellen.

Für wichtiger halte ich aber, dass hinter den beiden Kriegen eine andere Logik steckte. Bei der Kriegsführung gegen die Herero wurde seinerzeit im Deutschen Reich darüber debattiert, ob entfesselte Gewalt politisch funktional ist für das eigentliche Ziel – die Pazifizierung in Deutsch-Südwestafrika. Das lässt sich am Lavieren von Trothas und der Truppe ebenso wie an der vielfältigen öffentlichen Kritik an seiner Kriegführung zeigen.

Das alles spielt im Zweiten Weltkrieg überhaupt keine Rolle mehr. Hier ist entfesselte Gewalt das politische Moment. Es gibt keine zivile Instanz, die darüber reflektiert, ob sie politisch noch funktional ist oder nicht. Ruhe und Ordnung sind keine Kriterien für die Nationalsozialisten im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Das kann man am Generalgouvernement sehen: Die Gewalt, die sich zunächst nach Außen auf den Eroberungsfeldzug richtete, dreht sich und wird zu Terror nach Innen. Als 1941 der Krieg gegen die Sowjetunion beginnt, wird das Generalgouvernement umdefiniert, es ist jetzt Durchmarschgebiet. Es wird sogar überlegt, ob man es an das Großdeutsche Reich annektiert. Es kommt also zu einer Art neuem “Aggregatzustand” entgrenzter Gewalt innerhalb dieser Überlegungen des Zweiten Weltkrieges.

Der entscheidende Punkt scheint mir zu sein: Das politische Ziel war nicht, Ruhe und Ordnung in einer Kolonie herzustellen. Die Nationalsozialisten hatten völlig andere Denkhorizonte, den permanent entfesselten Kampf, der an keiner Grenze mehr Halt macht. Grenzen, sei es das Generalgouvernement oder zunächst der Warthegau, spielten keine Rolle mehr. Die Ostgrenze war eigentlich immer flexibel, nie genau definiert und wurde in den Überlegungen immer weiter vorangetrieben.

Ein dritter Punkt: Herr Zimmerer hat auf die Vielgestaltigkeit des Kolonialismus hingewiesen, der durch die Gleichzeitigkeit von Destruktion und Aufbau charakterisiert sei. Wo bleibt in seinem Vergleichsszenario dieses Moment des Aufbaus, das Herr Zimmerer als eines der Kernkriterien des Kolonialismus benannt hat, wenn man den Blick auf die deutsche Besatzungsherrschaft in Osteuropa richtet?

Jürgen Zimmerer:
Frau Kundrus postuliert, Asymmetrie sei das Konstitutivum des Kolonialkrieges. Wenn es fehlt, kann es sich nicht mehr um ein koloniales Setting handeln. Dieser Logik ist nicht zu widersprechen. Die Frage ist, ob es stimmt, dass es die technische Asymmetrie ist, die den Kolonialismus eigentlich definiert. Oder sind es nicht eher die Rassenideologie und das binäre Denken, die Dichotomie? Wenn man letzteres annimmt, dann gibt es Analogien zwischen Hererokrieg und dem Krieg im Osten. Dass es sich um einen kolonialen Rassenkrieg handelt, unterscheidet den Ostfeldzug auch vom Krieg an der Westfront.

Zur Aufbauleistung des Kolonialismus: Beim Siedlerkolonialismus ist eine Aufbauleistung im 19. Jahrhundert schlichtweg nicht vorhanden, zumindest was die kolonisierten Gesellschaften angeht. Diese wurde im 20. Jahrhundert herbeiphantasiert. Der Aufbau, der tatsächlich stattfand, umfasste den Aufbau der Siedlergesellschaft.

Es ist doch nicht so, dass der nationalsozialistische Krieg im Osten oder das nationalsozialistische Imperium nur dann kolonial ist, wenn es en miniature alle möglichen Elemente des Kolonialismus abbildet. Es geht doch vielmehr um die destruktiven Elemente, um das Gewaltpotential des Kolonialismus. Dieses findet sich in Osteuropa wieder. Warum, Frau Kundrus, wehren Sie sich eigentlich so sehr dagegen, dass man irgendetwas, was in Europa passierte, als kolonial bezeichnen könnte?

Reinhart Kößler:
Wir haben es mit einem historischen Geschehen zu tun, das in hohem Maß dem Konzept der “entangled history” entspricht. Es ist tatsächlich deutsche Geschichte in Namibia geschehen und zum herausragenden Teil auch namibische Geschichte in Deutschland. Das heißt, man kann Linien ziehen, die nicht unbedingt Kontinuitätslinien und Kausalketten sind, aber man kann Fragen stellen und sich über mögliche Forschungslinien unterhalten. Dabei sollte man aber die unterschiedlichen Probleme auseinander halten: Die Debatte über den Genozidbegriff einerseits und die Verbindungslinien von Kolonialkrieg und Holocaust andererseits.

Zur Frage des Genozidbegriffes: Die Intentionalität war beim Hererokrieg wesentlich eindeutiger, als Frau Kundrus das dargestellt hat. Die Briefe von Trothas, seine Auseinandersetzung mit Leutwein über die Frage der Vernichtung, sind einfach erdrückend: Es handelt sich um eine kontinuierliche Artikulation von Vernichtungswillen.

Eine weitere Überlegung: Jürgen Zimmerer hat darauf hingewiesen, dass der Genozid an den Herero – wie ich ihn nach wie vor nennen würde – in Deutschland seinerzeit breit kommuniziert wurde. Das unterscheidet ihn in jedem Fall vom Holocaust zum Zeitpunkt des Geschehens. Über diesen Kolonialkrieg wurden die so genannten “Hottentottenwahlen” samt intensivem Wahlkampf geführt, und es hat dazu eine breite zivilgesellschaftliche Mobilisierung gegeben, wie man bei Wehler, Nipperdey und anderen Historikern nachlesen kann. Die nationalen Verbände, nicht nur die Kolonialgesellschaft, sondern beispielsweise auch der Flottenverein haben massiv in den Wahlkampf eingegriffen. Es ist damals eine Neuordnung der deutschen parteipolitischen Landschaft erfolgt. Diese war wichtig für die weitere Entwicklung des radikalen Nationalismus in Deutschland, wie Geoff Eley das nennt. Es geht bei diesen Fragen nicht unbedingt um politische Konzepte oder strategische Vorgehensweisen der Armee, sondern um Denkmuster. Und es geht – da würde ich Jürgen Zimmerer zustimmen – um Entgrenzung.

Schwierigkeiten habe ich allerdings damit, wie beim Krieg im Osten die verschiedenen Prozesse analytisch auseinander gehalten werden können: Die Front, der Partisanenkrieg, die Einsatzgruppen und die Deportation von Juden aus dem Westen. Bei Letzterem handelt es sich meiner Meinung nach um einen völlig anderen sozialen Prozess, weil es dabei nicht um Entvölkerung ging. Gleichzeitig ist jedoch eine besonders radikale Entgrenzung festzustellen, weil sich das Geschehen auf unmittelbare Nachbarn und Bekannte bezieht.

Zum Problem der Verantwortung: Es gibt – und da muss man die “entangled history” durchaus national verstehen – auch heute eine Verantwortung gegenüber dem Geschehen in Deutsch-Südwest. Diese Verantwortung sollte man nicht durch den Verweis schmälern, dass es vor über hundert Jahren oder in kleinerem Maßstab als der Holocaust geschehen ist. Es geht hier nicht um eine Gleichsetzung mit dem Holocaust. Es ist jedoch nicht unwichtig, das Geschehen in Deutsch-Südwest als ‚Völkermord’ zu bezeichnen und das, was man von den Nachfahren der Überlebenden in Namibia hören kann, ernst zu nehmen. Dabei darf es keine Opferkonkurrenz geben, in der diejenigen, die auf der Täterposition stehen, sich Unterschiede in der Artikulationsfähigkeit, der Lautstärke oder in der Evidenz zunutze machen können.

Ulrich Herbert:
Frau Kundrus hat die Kategorien herausgearbeitet, die man zum Vergleich heranziehen kann. Dass verglichen werden muss, ist nachvollziehbar und richtig.

Die erste Kategorie ist die direkte Kontinuität: Es gibt einige Untersuchungen zum Thema personelle Kontinuität. Das Ergebnis ist jedoch nicht besonders eindrucksvoll. Bis auf einige Veteranen aus dem Kolonialkrieg, die bestimmte Funktionen im Dritten Reich innehatten, findet sich keine signifikante personelle Kontinuität. Gleiches gilt für militärische Konzepte: auch hier ist ein direkter Nachweis sehr schwierig. Alle Elemente einer direkten Kontinuität – etwa im Sinne einer personell vermittelten Kausalität – würde ich also zurückstellen.

Die zweite Kategorie sind Parallelen: Im Grunde sind das strukturelle Kategorien, die man herausarbeitet, um zu zeigen, dass es jenseits der unterschiedlichen zeitlichen Dimensionen und Bedingungen bestimmte Grundstrukturen von Massengewalt gibt, die mit dem Konzept Genozid erfasst werden können – oder auch nicht. Auch davon bin ich nicht sehr überzeugt. Man wird eine ganze Reihe von Parallelen und Analogien zwischen Kolonialkriegen und dem Krieg der Nationalsozialisten finden können. Doch dass es ein zentrales Element gibt, das beides als Varianten einer bestimmten Grundstruktur herausstellt, halte ich für fraglich.

Am interessantesten finde ich das, was Frau Kundrus “Transfer” genannt hat. Denn es lässt sich zeigen, dass die Vorstellungswelt eines Teiles der Protagonisten der NS-Eroberungspolitik koloniale Kategorien aufweist. Der Bezug auf das englische Kolonialreich taucht in der Korrespondenz insbesondere der SD- und RSHA-Führung immer wieder auf. Dieser koloniale Assoziationsrahmen der Nationalsozialisten kann durchaus weiter gefasst werden als ein bloßer Legitimationsrahmen. Er greift auch nicht direkt auf Deutsch-Südwest zurück, sondern viel platter auf die “Indianer”, die man im Wesentlichen aus Indianerbüchern kennt. Das Indianerbild von Adolf Hitler, der sich ja sehr oft darauf bezieht, ist das von Karl May. Wer da nach bedeutenderen Analogien sucht, wird fehlgehen. Im Prinzip sind das sehr banale Strukturen. Als Beispiel dafür lässt sich Heydrichs Aufbau der deutschen Geheimpolizei anführen. Wie er selbst sagte, hat er das Bild dieser Geheimpolizei aus Kriminalromanen englischer Autoren bezogen.

Es gibt also koloniale Träume und Perspektiven im Dritten Reich. Der tatsächliche kolonialpolitische Apparat der NSDAP spielte aber eine viel geringere Rolle. Die Deutsch-Südwestler galten im Dritten Reich als ein bisschen “vorgestrig”. Aber die Perspektive, ein Kolonialreich zu gewinnen – und zwar ein kontinentales Kolonialreich – war sehr virulent. Das gilt insbesondere für die Sowjetunion.

In dieser Hinsicht würde ich Frau Kundrus widersprechen. Zu Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion sah man ihn als einen asymmetrischen an, da man einen Sieg innerhalb von sechs Wochen erwartete. Nicht etwa nur die Nationalsozialisten, das glaubte die gesamte Fachwelt zu dieser Zeit, von Schweden bis Argentinien. Alle militärischen Experten waren einhellig der Meinung, dass nach den schnellen Siegen über die vermeintlichen Hauptgegner Frankreich und England das zusammenbrechende Russland nicht länger Widerstand leisten wird. Asymmetrie ist also ein Grundgedanke des Feldzuges im Osten. Dazu im Widerspruch steht allerdings das Empfinden einer strukturellen Defensive durch die deutsche Führung. Sie nahm an, dass man gegen eine Welt von Feinden zu kämpfen hat. Das war aber sehr stark bezogen auf den Westen und den Universalismus. Die Sowjetunion war gewissermaßen nur das kleine Anhängsel, das erobert werden musste, um sich auf London zu konzentrieren. So stellte sich die Situation im Frühjahr 1941 in der deutschen Führung dar. Die tatsächlichen Ereignisse resultieren also aus der Empfindung eines asymmetrischen Krieges und einer strukturellen Defensive, die beide schnelles und hartes Zuschlagen sowie eine radikale Entgrenzung implizieren.

Der Aspekt des Kolonialismus war in Bezug auf die Planung der deutschen Herrschaft in Osteuropa absolut zentral. Es ist unübersehbar: Der Generalplan Ost war ein kolonialer Plan. Die Ausstellung über den Generalplan Ost, die bis vor ein paar Wochen hier in Freiburg gezeigt wurde, hat das sehr deutlich gezeigt.

Interessant ist nun aber, dass der Rassismus, der beim Feldzug im Osten ganz bestimmt konstitutiv war, nicht unbedingt auf den Aspekt des Kolonialismus verweist. Soweit es den Generalplan Ost angeht und sich auf die russische Bevölkerung bezieht, besteht die Parallele. In Bezug auf den Holocaust aber bestimmt nicht. Deswegen ist der Buchtitel “Von Windhuk nach Auschwitz” für mich ein Problem. Angebracht wäre eher: “Von Windhuk zum Generalplan Ost”. In Auschwitz passierte etwas völlig Anderes: Dort wird eine als Motor des Fortschritts des Westens und gleichzeitig des Bolschewismus ausgemachte Bevölkerungsgruppe biologisch verantwortlich gemacht für die Irritationen der Moderne und deswegen ausgerottet. Hier haben wir es gewissermaßen mit dem Gegenteil eines Hererokämpfers zu tun. Hier sollten Fortschritt und Universalismus aus völkischen Gründen ausgerottet werden. An dieser Stelle empfinde ich Parallele, Analogie und auch Transfer als enorm problematisch.

Mein letzter Punkt betrifft die moralische Ebene: Ich habe das beklemmende Gefühl, dass die Genoziddebatte zum Legitimationsgewinn geführt wird. Die Parallelisierung zu Auschwitz verschafft Legitimationsgewinn, indem ich sagen kann: “Der Kolonialismus war genauso schlimm wie Auschwitz.” Letztlich führt dieses Unterfangen – wenn es empirisch nicht absolut dicht ist – jedoch immer in die Irre und verkehrt sich unter Umständen sogar ins Gegenteil. Ein Beispiel: Kulturminister Neumann und einige andere versuchen sich seit Jahr und Tag an der Parallelisierung der “beiden deutschen Diktaturen”. Doch die DDR hat zwar Aktenberge hinterlassen, aber keine Leichenberge. Hier würde ich für eine saubere Analyse – durchaus mit dem Begriff des Völkermords – plädieren, denn letztlich schaden Parallelen zum Legitimationsgewinn den eigenen analytisch-intellektuellen Zielen.

Birthe Kundrus:
Diese Debatte dreht sich doch vor allem um die Bedeutung des deutschen Kolonialismus für die deutsche Geschichte. Das ist gleichzeitig der Wert der Debatte, aber auch ihre Krux. Wir sollten den Kolonialismus als europäisches Phänomen sehen, und deshalb sollten wir auch in europäischen Dimensionen denken.

Man muss kontextualisieren, das ist das zweite Moment. Der Kolonialismus ist eine Entwicklung zu einer bestimmten Zeit. Es gibt parallel dazu andere, zum Beispiel den Antisemitismus. Dann gilt es abzuwägen: Welche einzelnen Momente sind wichtiger und welche unwichtiger in Bezug auf eine bestimmte Fragestellung, zum Beispiel die Kriegführung?

Ein positiver Aspekt für die NS-Forschung ist, dass sie durch die Anstöße aus der Kolonialismusforschung aus ihrem “Dämmerzustand” gerissen wird und dazu gezwungen wird, die Verallgemeinerungsfähigkeit der eigenen Aussagen zu überprüfen. Diese ist gegenwärtig ja sehr detailreichen Studien verhaftet und kann uns zum Beispiel genau sagen, an welchem Tag im Warschauer Ghetto wie viele Juden umgebracht worden sind. Aber sie verfolgt nicht mehr die “roten Linien” des 20. Jahrhunderts, die die Geschehnisse in Osteuropa im historischen Kontext verorten könnten. Wir befinden uns im Augenblick also in einer Dilemmasituation. Es wäre erfreulich, wenn die Kolonialismusforschung Erfolg haben und diesen “Dämmerzustand” beenden würde. Das Resultat könnten lesbarere Bücher über den Nationalsozialismus sein.

Jürgen Zimmerer:
Was eine bestimmte Strömung der Genozidforschung anbelangt, ist der letzte Einwand von Herrn Herbert sicherlich gerechtfertigt. Das bedeutet jedoch noch nicht, dass das Genozidkonzept deshalb absurd oder ungeeignet sein muss. Wenn wir gänzlich auf den Begriff verzichten, wie Christian Gerlach das ebenfalls verlangt, haben wir als Wissenschaftler ein Problem: Wir ziehen uns vom Genozidbegriff zurück, dieser wird aber weiterhin überall verwendet, zum Beispiel in der Politik. Wir sollten eher prüfen, ob es möglich ist, das Genozidkonzept so zu verwenden und theoretisch zu unterfüttern, dass es brauchbar ist – auch für Vergleichsarbeiten. Ich denke, das ist durchaus möglich.

Ich halte es für eine Unterstellung, die gesamte Genozidforschung strebe über den Vergleich des Kolonialismus mit dem Nationalsozialismus lediglich einen Legitimationsgewinn an. Denn umgekehrt kann man in der Weigerung, das Kolonialismuskonzept auf den NS anzuwenden, eine Apologetik des Kolonialismus, ein Herunterspielen sehen. Das gilt natürlich nicht für die gesamte Forschung, aber es finden sich Fälle, in denen das passiert.

Um nach vorne zu blicken: Was bringt es uns für das Verständnis des Kolonialismus, wenn wir den Nationalsozialismus als Kolonialismus verstehen, und was bringt es uns für das Verständnis des Nationalsozialismus? Bringt das einen heuristischen Gewinn?

Ulrich Herbert:
Der Ostfeldzug kann als Kolonialismus verstanden werden, aber doch nicht der Nationalsozialismus als ganzes.

Jürgen Zimmerer:
Wenn man sich fragt, in welchem Maße Kolonialismus im Nationalsozialismus enthalten ist, so lautet Ihre Antwort – die ich durchaus teile: Gewisse Elemente des Ostfeldzuges enthalten koloniale Elemente. Wenn man herausfinden möchte, was das spezifisch Neue an den nationalsozialistischen Verbrechen war, müssen wir uns von der Vorstellung lösen, es wäre nichts davon aus der Geschichte gekommen. Wenn manche Autoren die Reservatspolitik in Osteuropa als ein Novum der Weltgeschichte darstellen, bringt das die NS-Forschung überhaupt nicht weiter. Denn das Spezifische können wir nur verstehen, wenn wir bereit sind zuzugeben, dass manche Elemente so neu gar nicht waren.

Der eigentliche Holocaust, also die Ermordung der Juden, war in der Tat nicht kolonial, zumindest nicht in der Form wie der Ostfeldzug. Aber die Rede vom “Zivilisationsbruch” stammt auch nicht von mir. Welches Tabu ist denn im Nationalsozialismus erstmals gebrochen worden? Jedenfalls nicht das Tabu, dass man ganze Ethnien nicht umbringen darf.

Ulrich Herbert:
“Zivilisationsbruch” meint bei Diner den Bruch des Rationals, jemanden umzubringen, der lebend mehr “Nutzen” für den Täter hätte.

Jürgen Zimmerer:
An dieser Stelle kann ich nur auf die berüchtigte Debatte zwischen von Trotha und Leutwein verweisen. Als Trotha seine Vernichtungsabsicht kundtut, antwortet Leutwein, dass der Mord an den Herero doch Wahnsinn sei, da man sie als Arbeitskräfte bräuchte. Von Trotha antwortet, dass Deutsch-Südwestafrika weißen Mannes Land sei. Solle der weiße Mann den Pflug doch selbst ziehen. Hier haben es wir doch mit genau dieser Logik zu tun, die Diner als Zivilisationsbruch bezeichnet. Deshalb plädiere ich dafür, den Nationalsozialismus auch einmal mit dem kolonialen Instrumentarium zu untersuchen, weil es uns weiter bringen kann.

Eine der heiß diskutierten Fragen ist dabei immer: Wie werden so viele Deutsche zu willigen Vollstreckern, zu Tätern? Warum beginnt dieser Tabubruch, dieses Menschheitsverbrechen? Eine mögliche Antwort ist: Weil es ihnen nicht klar war, dass sie ein Menschheitsverbrechen begehen. Weil sie eben aus Karl May-Büchern, aus der Kolonialliteratur wussten, wie man mit “primitiven Völkern” umgeht. Und weil sie glaubten, dass das ganz normal sei, weil es durch alle anderen europäischen Kolonialmächte ebenso ausgeführt wurde.

Ich plädiere dafür, diese Fragen zu stellen. Denn nur so kommen wir auf den Kern des Verbrechens, der sich nicht ableiten lässt aus früheren Ereignissen. Aber wir können nicht schon a priori postulieren, dass keine Verbindung besteht.

Zuhörer:
Frau Kundrus, Ihr Vortrag leidet daran, dass einige Sachverhalte falsch bewertet werden. Ein Beispiel: Sie sagen, strukturell waren die beiden Kriege nicht vergleichbar, da in dem Hererokrieg immerhin noch eine zivil eingegrenzte militärische Gewalt vorhanden war, und das letzte Ziel die Befriedung war. Im Ostfeldzug hingegen sei das Militär nicht mehr zivil eingegrenzt gewesen. Der oberste Führer des Dritten Reiches war aber ein Zivilist, und das Primat der Politik hätten weder Hitler noch die Partei jemals durch das Militär in Frage stellen lassen. Zivil eingegrenzt war die Wehrmacht also in jeder Hinsicht.

Der zweite Punkt: Wir wissen seit Hillgruber, was das Dritte Reich und Hitler und natürlich auch die Wehrmacht wollten. Der Feldzug gegen die Sowjetunion war dabei nur ein Zwischenziel, dem die Beherrschung folgen sollte, wenn auch mit Terror. Friede im Land – auf welche Weise auch immer – war auch das Ziel des Ostfeldzuges. Einen strukturellen Unterschied zum Hererokrieg gibt es nicht.

Birthe Kundrus:
Es geht nicht um die strukturellen Unterschiede, es geht um Logiken. Was waren denn die Hauptlogiken des deutschen Krieges gegen die Sowjetunion? War er ein Kolonialkrieg? Er war kein Kolonialkrieg, weil sich die Logiken fundamental voneinander unterschieden. Der Kolonialkrieg gegen die Herero war eine klassische Pazifizierungsaktion. Beim Krieg gegen die Sowjetunion ging es nicht um Pazifizierung. Es ging um Annektion, um Eroberung fremden Terrains, Entstaatlichung, Entnationalisierung und Entgesellschaftlichung. Das war ein Weltanschauungskampf.

Transkription: Fabian Holzheid. Redaktionelle Bearbeitung: Fabian Holzheid/ Christian Stock

SEMINAR am 8.2.2008

Jörg Später (Moderation): Meine erste Frage an Herrn Zimmerer lautet: Wozu vergleichen wir historische Ereignisse? Wem dient das? Die Opfer aller Länder und aller Zeiten arbeiten sich beständig an diesem Thema ab, um auf das eigene Leid hinzuweisen und Anerkennung einzufordern. Das scheint mir der Subtext dieser ganzen Debatte und des Vergleichs zu sein, so wie das Ablehnen eines Vergleiches dazu dient, die Singularität des Holocausts zu betonen. Aus einer wissenschaftlichen Perspektive haben Sie, Herr Zimmerer, versucht, Antworten zu geben, wozu ein Vergleich vielleicht dienen kann. Aber ich möchte die Frage noch einmal grundsätzlich aufwerfen: Wozu vergleichen?

Meine zweite Frage bezieht sich auf die Verwendung des Genozidbegriffes, der ja den Vergleich scheinbar schon impliziert. Denn an der Judenvernichtung ist der Begriff ja entwickelt worden, und wer ihn verwendet, bezieht sich indirekt auf die Shoah. Wozu brauchen wir den Genozidbegriff?

Jürgen Zimmerer:
Ein Umstand wurde in der Podiumsdiskussion gestern vielleicht nicht deutlich: Es gibt verschiedene Arten, auf Gewalt zu blicken. Man kann ein Forschungsinteresse am Dritten Reich oder am Hererokrieg haben, oder an Australien, Armenien, Ruanda. Die Verwendung des Holocaust als Ausgangspunkt der Untersuchung stellt für mich bereits schon eine spezifisch eurozentrische oder deutsche Verengung dar. Das Forschungsinteresse kann sich doch auch auf vorher oder danach geschehene Massengewalt richten.

Wichtig für das Verständnis heutiger Fälle wie Ruanda oder Darfur ist in der Genozid- oder Gewaltforschung die Suche nach ähnlichen Fällen oder Gründen für die Entstehung solcher Massengewalt. Deshalb erscheint es mir nützlicher, das offen zu thematisieren und deutlich herauszustellen, wo die Gemeinsamkeiten sind und die Unterschiede. Denn Genozidforschung ist ja nicht auf Geschichtswissenschaft beschränkt. Es wird versucht, Massengewalt in der Geschichte als Phänomen zu verstehen, Ursachen aufzudecken und auch zu klären, wie man heute damit umgeht – das ist ein Aspekt, der in der Diskussion immer zu kurz kommt.

Wie gehen Opfer von Massengewalt mit ihrer Erfahrung um? Gibt es Lernprozesse, Hilfsprozesse, die man aus dem Umgang einer Gruppe mit einer ähnlichen Erfahrung für die Anderen lernen kann? Für die Herero wurde der Versuch kaum unternommen, aber zum Holocaust gibt es eine sehr breite Forschung über Überlebende und deren Probleme – sowohl aus der Täter- als auch aus der Opferperspektive. Und vielleicht kann das den Herero tatsächlich eine Hilfestellung sein beim Versuch, zu verstehen, was der eigenen Gruppe widerfahren ist.

Betrachtet man die Genozidforschung, dann ist der Holocaust der mit Abstand am besten untersuchte Fall. Wir wissen über keinen anderen Fall von Massengewalt so viel wie über den Holocaust. Deshalb ist er auch so wichtig für die Beschäftigung mit dem Thema, weil man theoretische und methodische Anregungen gewinnen kann.

Birthe Kundrus:
Grundsätzlich würde ich zustimmen, dass der Vergleich in der Wissenschaft ein heuristisches Verfahren ist. Durch ihn kann man Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausfinden und Spezifika feststellen. Eben das wird uns ermöglicht, wenn wir Kolonialismus und Nationalsozialismus als zwei Herrschaftssysteme gegenüberstellen. Vielleicht schärft das unseren Blick. In der Diskussion gestern haben wir besonderen Wert auf den Aspekt der Kriegsführung gelegt, aber man kann das sicherlich noch auf andere Formen von Herrschaft erweitern.

Um den Vergleich als solchen kommen wir gar nicht herum, im Gegenteil. Ich finde ihn äußerst sinnvoll und notwendig, weil wir – genau wie Herr Zimmerer sagte – auch etwas über die Genese und die Dynamiken solcher exzessiver kollektiver oder staatlicher Gewalt herausfinden wollen.

Nun gibt es natürlich – und das ist die politische Implikation solcher Forschung – Schlussfolgerungen für eine politische Praxis, solche Ereignisse zu verhindern. Welche Möglichkeiten der Einhegung von entgrenzter Gewalt gibt es? Ob wir dazu als Historiker, Soziologen, Anthropologen oder Literaturwissenschaftler tatsächlich etwas beisteuern können, eine unmittelbare Anwendbarkeit in Bezug auf die Prävention solcher Ereignisse herstellen können, wage ich zu bezweifeln. Das ist jedoch die Frage nach der politischen Dimension. Für den wissenschaftlichen Bereich aber erscheint es mir unabdingbar, solche Vergleiche zu unternehmen.

Die gute Erforschung des Holocausts ist einer jahrzehntelangen wissenschaftlichen Befassung damit geschuldet, die allerdings die Bundesrepublik erst relativ spät erfasst hat. Durch die Größenordnung der Shoah – und trotz aller Bemühungen, Quellen zu vernichten – ist es außerdem gelungen, erstaunlich viele Quellen zu retten. Wir haben also einen reichen Quellenkorpus zum Nationalsozialismus. Einerseits ist damit großartige Arbeit geleistet worden, deren Erkenntnisse man jetzt nutzt. Andererseits wird dieses unheimlich vielfältige und verästelte Wissen jetzt zum Problem der Forschung, da sie sich allzu sehr an Detailfragen abarbeitet.

Alle vergleichende Gewaltforschung nimmt sich also den Holocaust zum Vorbild. Das hat auch seine Berechtigung, mitunter führt es aber in die Irre, wenn man ein Modell entwickelt, und dieses auf andere Länder, Zeiten und Kontinente überträgt. Das Problem ist: Wie verallgemeinerbar ist ein solches Modell für andere Gewaltabläufe derartiger Dimension?

Jörg Später:
Es hat sechzig Jahre bis zum Erscheinen der ersten Monographie gedauert, die eine Opferperspektive entwickelt. Saul Friedländers Buch ist also insofern ein Novum, dass es erstmals versucht, das ganze Geschehen aus der Opferperspektive darzustellen. Bis jetzt war NS-Forschung meistens Täterforschung.

Birthe Kundrus:
Saul Friedländers Buch ist innovativ, da es Täter- und Opferperspektive zusammenzuführen versucht. Dan Diner hat das als eine zwischen Tätern und Opfern “widerstreitende Geschichte” definiert.

Jörg Später:
Die Opferperspektive gibt es im Falle der Herero und Nama jedoch nicht in gleichem Maße. Es gibt wohl keine Monographie, die emphatisch das Geschehen aus dieser Perspektive zu schildern versucht. Das wirft für mich das Problem der Opferkonkurrenz auf. Der ganze Vergleichsstreit läuft wie ein Wettbewerb ab, der immer wieder am Holocaust abgearbeitet wird. Pauschal gesagt, sind Afrikahistoriker eher zugeneigt, solche strukturellen Ähnlichkeiten oder Affinitäten festzustellen, während NS-Forscher diese meist konsequent ablehnen. Das ist kein Zufall, das hat etwas mit Wissenstradition zu tun. Mit dem Gegenstand, mit dem man quasi “verheiratet” ist, und mit der Konkurrenz der Opfer.

Auch die “gegenläufige Erinnerung” stellt ein Problem dar. Dan Diner hat das einmal schlüssig am Datum des 8. Mai festgemacht. Dieser ist – zumindest in Westeuropa – als Tag der Befreiung in das kollektive Gedächtnis eingegangen. An einem 8. Mai fanden aber auch in Algerien in mehreren Städten große Demonstrationen der nationalen Unabhängigkeitsbewegung statt. Gefordert wurde die Entlassung Algeriens in die Unabhängigkeit, nachdem man sich auf Seiten der Franzosen im Zweiten Weltkrieg engagiert hatte. Diese Demonstrationen wurden brutal niedergeschlagen, es gab Zehntausende von Toten in drei Orten, und es stellte sich heraus, dass die “Befreier”, die Sieger des Zweiten Weltkrieges, zu dessen Versinnbildlichung und “Ikone” sich dann die Shoah entwickelte, weiterhin koloniale Unterdrücker blieben.

Es bildete sich also etwas wie ein antikoloniales Gedächtnis, eine antikoloniale Erfahrung des Zweiten Weltkrieges heraus und gleichzeitig im Widerstreit dazu das Auschwitz-Gedächtnis. Hieraus entstand ein Konkurrenzverhältnis, was sich zusätzlich durch den Nahostkonflikt verkomplizierte. Die Entstehung von Israel kann man als partikularistische Antwort auf die Erfahrung der Shoah interpretieren, die jedoch im antikolonialen Gedächtnis als Entstehung eines kolonialen Erobererstaates wahrgenommen wurde. Dieser wurde ja durch die berühmte UN-Deklaration als “rassistisch” gebrandmarkt (man kennt ja noch die Formel “Zionismus = Rassismus”), so dass ein antirassistisch-antikoloniales Gedächtnis in Konkurrenz zu einem anti-antisemitischen Gedächtnis steht. Die Debatte hat also einen doppelten Boden, und sie ist politisch kontaminiert.

Lydia Ehler:
Die Täterperspektive der Geschichtsschreibung kommt ja zu ganz dubiosen Kontinuitäten wie zum Beispiel die Sonderwegsthese, während die Opferperspektive viel mehr das Situative in den Vordergrund stellt, wie auch Dan Diner sagte.

Somit scheint es, als wäre die Feststellung von Kontinuitäten von der Opferperspektive aus gesehen nicht sinnvoll, wenn wir den Opfern zuhören, die ja immer wieder feststellen wollen, dass das erlebte genozidale Geschehen einen Bruch darstellt. Andererseits muss man festhalten, dass es nur dort Brüche gibt, wo es auch Kontinuitäten gibt. Es stellt sich nun also die Frage, welche Kontinuität – nicht welcher Transfer- sinnvoll zu konstituieren ist, wenn doch gleichzeitig jede Kontinuität einen subjektiven Charakter hat.

Deshalb frage ich mich, ob man nicht gerade die Erfahrungswelt der Opfer mit hinzuziehen sollte. Diese haben etwas erlebt, was sich jedem rationalen Verständnis entzieht. Das betonen die Opfer – gerade die Holocaustopfer – ja immer wieder. Die Opfererfahrung straft also jede Kontinuitätsthese Lüge, die sich an strukturelle Kontinuitäten hält. Meine Frage ist, warum die Geschichtsschreibung die Opfererfahrung nicht ernst nimmt, obwohl diese einen erhellenden Blick auf das Geschehnis als Solches geben könnte.

Birthe Kundrus:
Ich kann diese Vernachlässigung der Opferperspektive in der NS-Forschung nicht ausmachen. Die Literatur zu Konzentrationslagern beispielsweise stützt sich sehr stark auf die Erfahrungen der ehemaligen Insassen, mit Hilfe von “oral history”, Befragungen und autobiographischen Zeugnissen – nehmen sie Primo Levi oder andere. Sie sind in hohem Maße für die Darstellung der schrecklichen Lebensbedingungen in den Konzentrationslagern herangezogen worden.

Jörg Später:
Gerade wenn man die Lagerliteratur betrachtet, kann man sehen, wie heterogen diese Erfahrung ist, dass man also eine Vielzahl von Stimmen hat. Nehmen sie Primo Levi, der das Entmenschlichte in den Vordergrund stellt, nehmen sie einen Roman von Imre Kertész, der genau gegenteilige Lagererfahrungen hat, nehmen sie Ruth Klüger, die nochmal eine andere Lagererfahrung hat. Das sind subjektive Stimmen. Man kann also keine Aussagen fällen wie: “So ist das Lager. Das Lager hat diese und jene Erfahrungen, Folgen, Traumata zur Folge”.

Jürgen Zimmerer:
Wir sollten uns darauf einigen: Alle Genozidopfer machen eine Erfahrung, die nicht rational ‚aufgearbeitet’ werden kann. Eigentlich müssten wir sogar sagen: Alle Opfer von Gewalt machen diese Erfahrung. Wenn man das auf alle Genozidopfer beschränkt, brauchen wir bereits eine Definition, was Genozid ist. Dem kann man dem zustimmen oder man kann es ablehnen, aber was bringt uns das?

Sie, Herr Später, wollen ja schon auf eine bestimmte Art von Gewalt hinaus. Das bringt uns direkt in die Debatte, was ein Genozid eigentlich ist. Welche Opfer des Dritten Reiches sind Opfer des Genozids? Gibt es andere Opfer von Genoziden? Gibt es Genozide außerhalb der Geschichte des Dritten Reiches?

Es stimmt nicht, dass es die Opferperspektive in der Kolonialismusforschung nicht gäbe. Ich behaupte sogar, zwischen Ende der 1960er Jahre und Anfang 2001/2002 war die Opferperspektive dominierend, der Versuch, an die Erfahrung der Opfer heranzukommen. Die Täterforschung ist in diesem Fall eher wieder etwas Neues. Ein anderes Problem ist: Wer betreibt die Opferforschung im Falle des Kolonialismus? Das machen natürlich Europäer oder Nordamerikaner. Es ist unmittelbar mit dem Kolonialismus als Phänomen verbunden, dass es kaum oder vergleichsweise wenige Herero- oder Nama-Historiker, -Soziologen und -Politologen gibt. Aber es gibt Herero- und Nama-Geschichtsschreibung. Wir sind vielleicht nicht zu einem Ergebnis gekommen, das uns alle befriedigt. Aber dass die Suche nach der Synthese von Täter- und Opfergeschichtsschreibung nicht unternommen worden wäre, das halte ich so nicht für korrekt.

Es ist eher ein Problem, dass wir hier in Freiburg, in Deutschland als Historiker die Literatur, die über Herero und Nama geschrieben wurde, einfach nicht zur Kenntnis nehmen. Dass ein gestandener Deutschlandhistoriker sich eher die Hand abhackt, als das Journal of African History aufzumachen.

Birthe Kundrus:
Das ist der Unterschied. Wir sind vielleicht nicht zu einem Ergebnis gekommen: Was hat die Herero angetrieben, warum haben sie sich am Waterberg versammelt? Aber der Versuch ist unternommen worden. Ich höre bei Ihnen [zur Studentin] eine unbedingte Parteilichkeit für die Opfer heraus. Das führt uns jedoch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung nicht weiter.

Zweitens: Was wollen Sie aussagen, außer dass es viele Erfahrungen von Opfern kollektiver entgrenzter Gewalt gibt, und nicht nur die eine Erfahrung der “Sinnsuche”? Diese Sinnsuche ist vielleicht schon etwas, was Opfer von Gewalt eint: “Warum ich?” Das gilt sowohl für individuelle als auch für kollektive Gewaltereignisse: “Warum wurde ich vergewaltigt, überfallen, ausgeraubt, entführt? Warum musste ich ins KZ?” Das ist eine Frage, die sich alle Opfer irgendwann stellen. Aber die Antworten darauf fallen sehr unterschiedlich aus.

Christian Stock:
Es war hier schon von Opferkonkurrenz die Rede, und ich wollte nochmals unterstreichen was Jörg Später darüber gesagt hat. Das lässt sich an einem Beispiel erläutern: es gibt ein Buch von Rosa Amelia Plumelle-Uribe, “Die weiße Barbarei”. Plumelle-Uribe ist Afro-Kolumbianerin und arbeitetet als Wissenschaftlerin in Paris. Der erste Teil ihres Buches ist sehr berechtigt, denn es wird nachgewiesen, dass die Geschichtswissenschaft und die Öffentlichkeit sich viel zu wenig mit den Kolonialverbrechen der Weißen an den Schwarzen, wie sie das bezeichnet, auseinandergesetzt haben.

Den zweiten Teil des Buches finde ich sehr ärgerlich, denn da versucht sie nachzuweisen, dass die Juden nach der Shoah nur deshalb bevorzugt als Opfer behandelt wurden, weil sie Weiße waren. Dass sie großzügige Entschädigungen erhalten haben – was so überhaupt nicht stimmt. Sie seien also im Vergleich zu den Schwarzen eine bevorzugte Opfergruppe gewesen. Das Buch mündet dann in eine wüste Anklage gegen Israel als Apartheidstaat, als kolonialer Unterdrücker der Neuzeit etc. Das sei nur als abschreckendes Beispiel dafür angeführt, wozu eine Opferkonkurrenz führen kann. Es wird dabei politisch instrumentalisiert, und es geht hier nicht nur um innerwissenschaftliche Auseinandersetzungen. Auch innerhalb der Wissenschaften wird Politik betrieben.

Ein anderer Aspekt – und das kam bisher zu kurz – ist die Frage, was denn die ideologischen Hintergründe für die Kolonialverbrechen einerseits und die Shoah andererseits sind? Der Kolonialrassismus auf der einen Seite und der Vernichtungsantisemitismus auf der anderen Seite – beim Russlandfeldzug auch Antibolschewismus und Antikommunismus – unterscheiden sich als ideologische Motivlagen doch erheblich voneinander. Deswegen würde ich auch bei der Genealogie, die Herr Zimmerer herauszuarbeiten versucht, doch sehr stark auf die Brüche und Diskontinuitäten verweisen wollen.

Viele Kolonialhistoriker und antirassistische Theoretiker behandeln den Antisemitismus, als sei er ein Unterfall von Rassismus. Es sei einfach nur eine bestimmte Gruppe, die Juden, die von rassistischer Unterdrückung betroffen seien. Das stimmt aber nicht. Der Kolonialrassismus sah in den “Schwarzen und Negern” zunächst minderbemittelte Menschen, denen geholfen werden musste, das waren “Kinder, die man erziehen muss”. Erst mit dem Hererokrieg kippte das in Deutschland, man nahm sie nun auch als Feind wahr, oder als ungehorsam gewordene, pubertierende Kinder, die man mit harter Hand züchtigen muss. Es stand dabei aber immer eine absolute Überlegenheit gegenüber der “minderen schwarzen Rasse” im Vordergrund.

Beim Antisemitismus ist das anders. Die Juden wurden als perfide, als verschlagen, als Unterdrücker, als Verschwörer gehandelt. Sie wurden haftbar gemacht für das, was man die “Verwerfungen der Moderne” nennt. Man hat sie als überlegen und daher gefährlich angesehen. Und deshalb mussten sie laut NS-Ideologie vernichtet werden, weil sie eine große Gefahr für das “deutsche Volk”, aber auch für die ganze Welt darstellten.

Das sind ganz andere Perspektiven, und deshalb finde ich, dass die Rede “Von Windhuk nach Auschwitz” den Kern des Problems nicht trifft. Wenn, dann ließe sich noch am ehesten sagen “Von Windhuk nach Stalingrad”, denn im Osten gab es wirklich koloniale Eroberungszüge. Aber auch hier ist die antibolschewistische Ideologie etwas völlig Anderes gewesen als der Kolonialrassismus.

Lydia Ehler:
Ich würde gerne noch einmal darauf hinweisen, dass es sinnvoll ist, die Erlebniswelt und die Erfahrung in den Vordergrund zu stellen, und dass gerade auch jetzt, wo bald eine Geschichtsschreibung, wie Friedländer sie unternimmt, nicht mehr möglich ist, diese fortgeführt werden sollte. Es sollte weiterhin versucht werden, sich diese Erfahrung anzueignen. Vielleicht funktioniert das über eine Identifikation. Dan Diner schlägt vor, dass man sich die Rolle des Judenrates verinnerlicht, wo Täter- und Opferperspektiven in Eins fallen.

Jürgen Zimmerer:
Sie, Herr Stock, haben das Beispiel von Frau Plumelle-Uribe angeführt. Dazu muss ich sagen: Sie sieht sich als “survivor”, als Teil einer Opfergruppe. Sie hat das Recht, zu sagen, was immer sie möchte. Das ist ihr individueller Umgang mit ihrem Leid. Gleichzeitig sagen alle, die ihr Buch gelesen haben: Es ist unsäglich. Es nimmt niemand ernst, und es entbehrt jeglicher Grundlage. Aber wir können es akzeptieren, da es ihr gutes Recht ist, mit ihren traumatischen Erfahrungen umzugehen, wie sie will. Dieses Buch ist de facto eher Literatur als Forschung.

Was mich an dieser uralten Debatte stört, welche Perspektive man einnehmen darf, ist: warum muss man sich denn entscheiden, welche zulässig ist und welche nicht? Warum sind nicht, je nach Erkenntnisinteresse, je nachdem, wer man ist und was man herausfinden möchte, verschiedene Perspektiven legitim? Das ist eine Frage, die sie mir beantworten müssten.

Reinhart Kößler:
Vielleicht muss man wirklich, um Erfahrungen zu transportieren, Gedichte oder Musik schreiben oder Bilder malen. Das kann durchaus die unmittelbarere Form sein, sich Anderen verständlich zu machen. Es geht ja darum, das nicht Kommunizierbare irgendwie kommunizierbar zu machen. Doch was kann die Wissenschaft in Kenntnis ihrer Grenzen dennoch tun? Sie kann Literatur, Kunst oder Musik als Quelle oder Material nehmen, das sie analysiert und mit ihren Begriffen zu verstehen versucht. Und sie kann Zeugnisse von Opfern aufarbeiten. Sie kann – soweit möglich – tiefenbiographische Interviews machen.

Das sind Möglichkeiten, die durchaus wahrgenommen werden, und das gilt auch für den herero-deutschen Krieg. Da ist die Quellenlage nicht so reichhaltig wie im Falle des Holocaust, aber es gibt durchaus einige Beiträge. Es gibt beispielsweise einen Aufsatz, der Lieder von Herero in Botswana über ihre Flucht thematisiert. Das sind erschütternde Dokumente. Aber man muss sich gleichzeitig im Klaren darüber sein, dass die Wissenschaft irgendwann ihre Grenze erreicht.

Lydia Ehler:
Ich habe nicht gemeint, dass eine Perspektive wertvoller sei als die andere. Ich glaube nicht, dass es überhaupt möglich ist, eine Wissenschaft nicht aus einer bestimmten Perspektive zu betreiben. Ich halte es aber im Hinblick auf eine kosmopolitische Identität für sinnvoll, dass die Täter- und Opferperspektive in Eins fällt.

Jürgen Zimmerer:
Das sind theoretische Forderungen, die man gut aufstellen kann. In der Praxis hat man ein Problem. Darf denn ein Europäer, ein Weißer die Opferperspektive einnehmen? Es gibt dann von afrikanischer Seite den Vorwurf, wie man sich als Europäer erdreisten könnte, zu glauben, man könnte diese Erfahrungen schildern. Kann ich also als Täter nur Täterperspektive schreiben, als Opfer nur Opferperspektive? Wessen Geschichte ist es eigentlich, gibt es einen privilegierten Zugang zur Wahrheit? Weil man selbst von einer bestimmten Hautfarbe ist? Das sind Probleme, die in der täglichen Forschungstätigkeit auftauchen, und die sehr schwierig zu umgehen sind.

Zur Etablierung eines Wettbewerbs der Opfer: Das ist ja der latente Vorwurf an die Wissenschaft, die vergleichende Genozidforschung betreibt. Er ist aber nicht fair, da er nicht durch die Sache gestützt wird. Denn die meisten Wissenschaftler, die dazu arbeiten, verwahren sich dagegen und betonen, dass es nicht um einen Wettbewerb der Opfer geht. Der Wettbewerb entsteht erst dann, wenn die Opfer darüber reden. Wie geht man mit dieser “Opferperspektive” um? Wie geht man damit um, wenn ein Herero sagt: “Die Ermordung meiner Großmutter im Konzentrationslager Haifischinsel empfinde ich als genauso schlimm wie die Ermordung einer jüdischen Großmutter in Dachau oder Auschwitz.”

Wir müssen uns also darauf beziehen, was die Wissenschaft machen kann. Und die etabliert keinen Wettbewerb der Opfer, wenn sie sagt, dass es Fälle von Massengewalt gibt, die genug strukturelle Ähnlichkeit aufweisen, dass man sie in eine Typologie von Gewalt überführen und darauf untersuchen kann: Woher kommt diese Gewalt, wie kommt man aus dieser Gewalt wieder heraus? Denn diese Art von Gewalt wiederholt sich ja. Es ist ja nicht so, dass genozidale Gewalt nur ein historisches Phänomen ist. Sie geschieht in diesem Moment in Darfur, während wir hier theoretisieren.

Christian Stock:
Was das Recht der Opfer betrifft, sich frei dazu äußern zu können, stimme ich Ihnen völlig zu. Ich wünschte, Sie hätten auch Recht, was die Wissenschaft betrifft. Aber Sie entwerfen ein Wunschbild von der Wissenschaft. Ulrich Herbert hat das gestern schon angedeutet: Es gibt im totalitarismustheoretisch argumentierenden Sektor der Genozidforschung sehr wohl ein Aufrechnen. Dieser Vorwurf ist nicht an Sie gerichtet, aber es findet längst statt, etwa beim Hannah-Arendt-Institut in Dresden.

Birthe Kundrus:
Das ist wieder die Diskussion um den Genozidbegriff. Das Problem ist, dass dieser Begriff unheimlich viel leisten soll. Er hat eine wissenschaftliche, eine politische, eine rechtliche Funktion. Das ist eine Überforderung. Er legt politisch nahe, es gäbe eine Hierarchie der Opfer. Genozid ist sozusagen “the crime of all crimes”. Das ist eine politische Instrumentalisierung oder Benutzung des Begriffes, und das ist ein Problem. Damit müssen wir als Wissenschaftler umgehen.

Deshalb würde ich dafür plädieren, sich vom Genozidbegriff zu lösen und die Ereignisse anzuschauen. Wir kommen so zumindest um die Einordnung herum: “Dieser Fall ist ein Genozid, dieser nicht.” Wir wären bei Ereignissen von massenhaft entgrenzter Gewalt nicht sofort in diesen Genoziddiskurs verwickelt, der politisch, rechtlich, normativ und empirisch aufgeladen ist. Ich empfände das als Befreiung.

Jürgen Zimmerer:
Der Genozidbegriff ist aber schon ein rationalisierter und ent-emotionalisierter Begriff. Wenn wir ihn aufgeben, gewinnen wir gar nichts. Wir können postulieren, dass Wissenschaft von jeglicher Politik losgelöst ist. Wenn man aber – und dazu bekenne ich mich offen – der Meinung ist, dass man als Wissenschaftler eine politische und moralische Verantwortung hat, wenn man die Politik kritisch begleiten soll, dann müssen wir den Genozidbegriff in diese Debatten führen und versuchen, ihn zu versachlichen. Denn außerhalb des Elfenbeinturms wird das Konzept benutzt, und mit ihm wird Politik gemacht. Übrigens von beiden Seiten. Es sind ja nicht nur die Nicht-Holocaust-Opfer, die den Begriff instrumentalisieren.

Jörg Später:
Deswegen ist es ja auch kein Vorwurf, diese Opferkonkurrenz festzustellen, sondern der Appell, zu reflektieren, was der doppelte Boden der Debatte ist. Man kann nicht, wie Martin Broszat das immer getan hat, vom Pathos der Nüchternheit, von der objektiven Zeitgeschichte sprechen. Und wenn man das Gefühl hat, dass Begriffe, die zur Analyse dienen, sich verselbstständigt haben und im Kontext der Öffentlichkeit anders besetzt sind, dann löst man sich davon. Warum sich nicht vom Begriff des Holocaust lösen? Raul Hilberg hat schlicht und ergreifend vom Judenmord gesprochen, das finde ich eigentlich viel besser als diese gefüllten “Behälter”.

Birthe Kundrus:
Es geht nicht darum, zu sagen: “Der Begriff hat sich nicht bewährt.” Er hat durchaus Erkenntnisse gebracht. Doch ich finde, es ist an der Zeit – so wie auch bei Begriffen wie Totalitarismus oder Faschismus – zu überprüfen und festzustellen, ob er seinen Zweck für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung noch erfüllt. Oder hat er nicht zu viele Inhalte, die er immer mit sich transportiert? Gibt er nicht eine bestimmte Sichtweise auf diese Mega-Gewaltereignisse vor, die man in vielen Ereignissen gar nicht wieder findet? Müssen wir dieses ganze Gepäck immer mitschleppen, oder können wir ihn nicht für den Augenblick aufgeben und eine andere Sichtweise versuchen?

Reinhart Kößler:
Raul Hilberg konnte, wenn ich mich recht entsinne, den Begriff Holocaust noch nicht verwenden. Soweit ich das beurteilen kann, ist der Begriff erst mit der berühmten Fernsehserie 1979 popularisiert worden.

“Genozid” weist nun eine sehr andere Begriffsgeschichte auf. Da geht es nämlich von vorneherein um ein Phänomen des frühen 20. Jahrhunderts. Es geht darum, nicht mit dem Judenmord, sondern mit dem Mord an den Armeniern begrifflich, historisch und juristisch umzugehen. Aber durchaus mit der Perspektive: “Es kann wieder passieren”, und durchaus immer auch juristisch.

Was wir als Wissenschaftler tun und schreiben, passiert nicht im luftleeren Raum, das wird außen wahrgenommen und verarbeitet. Wenn Sie auf deutsch im entsprechenden Organ – das ist jetzt keine Fiktion – eine Kritik am Genozidbegriff zusammen mit einer differenzierten Analyse des Hererokrieges veröffentlichen, dann müssen Sie damit rechnen, dass einige Zeit später in der “Allgemeinen Zeitung” in Windhuk steht: “Frau Kundrus behauptet, dass es sich nicht um einen Völkermord handelt.”

Birthe Kundrus:
Bedeutet das, dass ich nicht mehr schreiben darf, was ich will?

Reinhart Kößler:
Das liegt mir völlig fern. Doch was Sie schreiben, wird schnell wieder zurückkommuniziert, und Sie finden Teile Ihrer Aussagen auf kolonialapologetischen Websites, die in Deutschland betrieben werden, die dann wiederum von Schülern anklickt werden, die über den Kolonialismus ein Referat halten wollen. Ich möchte uns kein Denk- oder Schreibverbot auferlegen, wir sollten uns aber über die möglichen Folgen unserer begrifflichen Strategien im Klaren sein. Und wir sollten Vorkehrungen treffen, dass wir nicht in Ecken gestellt werden, in denen wir absolut nicht stehen.

Jürgen Zimmerer:
Wenn wir den Genozidbegriff abschaffen wollen, müsste man mir sagen: Was wollen wir dann als Konzept verwenden? Denn die Frage, die Reinhart Kößler gerade angesprochen hat, ist: Warum gibt es den Begriff Genozid?

Über den Begriff Holocaust, und wie er aufgeladen ist, wissen wir Bescheid. Aber der Begriff Genozid stammt ja daher, dass Raphael Lemkin der Meinung war, dass es eine Art von Gewalt gibt, die sich von Krieg und anderen Formen von Massengewalt unterscheidet, weil sie ethnische und andere Kollektividentitäten und ethnische Gruppen biologisiert und vernichten will. Weil es eben ein Kampf, ein Verbrechen gegen Kollektividentitäten darstellt. Man kann das bei Raphael Lemkin nachzeichnen, der mit Barbarei und Vandalismus argumentiert hat als ersten Versuch, und der dann Armenien und den Holocaust zusammen dachte und zu dem Schluss kam: Es gibt ein Verbrechen, das sich von Krieg und selbst von zivilen Opfern im Krieg unterscheidet. Weil es auch Kulturgüter zerstört, weil es Gruppen vernichtet, weil es – wenn möglich – auch die Erinnerung an die Gruppen zerstört und damit im Grunde – wie man heute sagt – die kulturelle Diversität attackiert.

Wenn wir uns darauf einigen, dass es diese Art Verbrechen gibt, dann brauchen wir einen Begriff dafür. Wenn wir – wie es Christian Gerlach versucht hat – von “extremely violent societies” sprechen, dann vermengen wir alle Arten von Verbrechen. Dann können wir diese spezifische Art von Verbrechen nicht mehr unterscheiden, die den Holocaust, den Judenmord so schrecklich macht, aber auch die Ermordung der Sinti und Roma und meiner Meinung nach auch den Hererokrieg.

Jörg Später:
Ich möchte noch einmal auf die unterschiedlichen Vernichtungslogiken von Antisemitismus und Rassismus hinweisen. Die Theorie der jüdischen Weltverschwörung hat ja vielleicht schon eine gewisse Vernichtungslogik inhärent, die Saul Friedländer schon mit dem Begriff Erlösungsantisemitismus beschreiben wollte.

Heiko Wegmann:
Noch einmal zur Frage des Tabubruches: Herr Zimmerer sagt, dass es die Erfahrung des Tabubruches gebraucht hätte, um im Nationalsozialismus Verbrechen noch größeren Ausmaßes zu ermöglichen. Frau Kundrus hat eingeworfen, man solle doch jenseits von Sonderwegsthesen Kolonialismus als Gewalterfahrung, als europäische Geschichte sehen. Wenn man nun direkte Verbindungslinien zwischen Windhuk und den späteren Kriegen bzw. dem Ostfeldzug ziehen will: Personelle Kontinuitäten kann man relativ wenige sehen, auf Militärkonzepte wurde sich wenig direkt bezogen. Auf der anderen Seite war der Kolonialismus vielleicht als gesamtgesellschaftliches Setting noch präsent. Doch es stellt sich die Frage: Was geschah sonst noch?

Als konkretes Beispiel würde ich hier den Abessinienfeldzug anführen. Im Oktober 1935 marschierte Italien mit einer gigantischen Kolonialarmee in Ostafrika ein, ein Kolonialkrieg bis dahin völlig unbekannter Ausmaße, auch was die Beteiligung italienischer Truppen angeht. Die ersten Giftgasbombardierungen größeren Maßstabes gegen die Zivilbevölkerung fanden statt, und diejenigen Historiker, die sich damit befassen, weisen darauf hin: Zum Polenfeldzug gibt es sehr starke Analogien.

Was nach Ende des Krieges (der Abessinienfeldzuges hat nur sieben Monate gedauert) bis zur Befreiung Abessiniens passierte, hat sogar noch viel mehr Opfer gefordert, weil bestimmte Gruppen ausgerottet wurden. Es war also wirklich das Ziel, bestimmte Gruppen, Bevölkerungsteile, Religionsgemeinschaften usw. wirklich auszuradieren. Diese fordern jetzt Aufmerksamkeit ein.

Die Nationalsozialisten haben sehr genau beobachtet, was da seinerzeit passiert ist. Zudem hat es eine Wende in den deutsch-italienischen Beziehungen hervorgerufen. Die Haltung Italiens gegenüber Deutschlands im Völkerbund hat sich verändert, nachdem Deutschland Italien im Abessinienfeldzug unbehelligt vorgehen ließ.

Meine Frage ist nun: Müsste man dann nicht den Genozid in Namibia wiederum in eine Reihe mit allen anderen möglichen Gewalterfahrungen stellen, oder eben einfach noch verschiedene Dinge kontextualisieren? Ist die Erfahrung des deutschen Kolonialismus, und speziell der Gewalterfahrung in Kolonialkriegen, ein Teil einer ganzen Reihe von Erfahrungen, die sich auf irgendeine Weise im Ostfeldzug niedergeschlagen haben?

Jürgen Zimmerer:
Glauben Sie, dass es eine Beziehung gibt zwischen dem Holocaust und dem Antisemitismus im frühen 19. Jahrhunderts in Deutschland? Oder sind das völlig voneinander abgetrennte Phänomene?

Heiko Wegmann:
Ich glaube schon, dass es da eine Beziehung gibt.

Jürgen Zimmerer:
Das heißt: Wir gestehen zu, dass es Verbindungslinien gibt, die nicht durch personelle Kontinuität geprägt sind. Warum wird dann aber mit zweierlei Maß gemessen? Wenn man eine koloniale Mentalitätsstruktur, eine koloniale Vorstellungswelt konstatiert, heißt es sofort: “Das muss aber personell nachgewiesen werden”.

Heiko Wegmann:
So habe ich das nicht gesagt. Es gibt verschiedene Kriterien für Kontinuität. Wenn es personelle Kontinuitäten gäbe, müsste man sie festhalten, und dann schaut man auf der nächsten Ebene, etwa der Literatur. Da würde ich Ihnen Recht geben, dass 1937-1938 der Zeitraum war, in dem es wohl die meisten Neuerscheinungen in der Kolonialliteratur gab, und nicht 1907-1908.

Jürgen Zimmerer:
Diese Gier nach personellen Kontinuitäten führt doch in der Praxis zu absurden Ergebnissen: Als Verbindungslinie zu proklamieren, dass der in Deutsch-Südwest aktive Heinrich Göring der Vater von Hermann Göring war, ist doch Quatsch. Das ist ja gar nicht der Bereich des Völkermords, als Heinrich Göring in Südwest war. Das gleiche gilt für Epp, der im Dritten Reich keine größere Rolle spielt und in die “koloniale Ecke” abgeschoben wird, die die Nazis nicht weiter interessierte.

Interessanter ist doch: Kann man Verbrechen der Nationalsozialisten eigentlich in eine Weltgeschichte des Kolonialismus einfügen? Wenn wir uns den Kolonialismus als große Matrix vorstellen, macht es Sinn, und wenn ja, in welchen Aspekten, den Nationalsozialismus einzuordnen? Das geht auch mit dem Abessinienkrieg.

Und deshalb ist es mehr oder minder egal, ob es eine personelle Kontinuität gibt. Es ist doch unerheblich, ob Hitlers oder Himmlers Vorstellung über die englische Kolonialherrschaft in Indien irgendetwas mit der Realität zu tun hatte oder nicht. Wichtig ist doch der Vorstellungsraum, den sie hatten. Und der speist sich aus dem deutschen Kolonialismus, aus dem europäischen Kolonialismus, ja sogar aus Karl May-Büchern, also aus rein fiktionalen Erzählungen. Doch daraus entsteht eine imperiale und koloniale Vorstellungswelt, die dann wirkungsmächtig wird.

Was bei den Wortmeldungen immer mitschwingt ist: “Sie und die Vertreter dieser Richtung wollen ja nur diesen einen Weg herausarbeiten!” Das halte ich für polemisch.

Birthe Kundrus:
Den Weg geben Sie ja vor. Wenn man seinem Buch den Titel “Von Windhuk nach Auschwitz” gibt, dann ist der Weg doch relativ linear, selbst wenn er mit einem Fragezeichen versehen ist. Aber ich bin froh, dass Sie das Argument, dass es einen kolonialen Resonanzboden und Transfers gibt, annehmen. Vielleicht können wir diesen unscharfen Begriff “Verbindungslinien” etwas konkretisieren.

Jürgen Zimmerer:
Jetzt kommen wir zum Kern der Auseinandersetzung. Worum es eigentlich geht, ist, dass die Diskussion unzulässig diffamierend geführt wird. Es ist beispielsweise nicht wahr, dass ich in meinen Arbeiten eine monokausale oder monolineare Verbindungslinie gezogen hätte. So steht selbst der Hinweis auf Karl May, auf die populäre Vorstellung vom Wilden Westen in meinen Aufsätzen.

Christian Stock:
Ihr Ansinnen, Genealogien oder Verbindungslinien aufzuzeigen, ist vollkommen legitim, das ist nicht der Punkt. Aber Sie lassen eine Leerstelle. Sie sprechen nicht über die Brüche, die Diskontinuitäten, die unterschiedlichen Ideologien und so weiter. Sie fragen sich auch nicht, warum Großbritannien als Erfinder des concentration camps im kolonialen Kontext eben später keine Vernichtungslager hervorgebracht hat. Italien, das mit dem Abessinienkrieg einen brutalen Kolonialkrieg führte, war später ein faschistisches Land, Spanien mit seiner großen kolonialen Erfahrung ebenfalls. Die westlichen Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien waren hingegen niemals faschistisch. Warum das so war, ist eine spannende Frage, die Ihre Genealogie teilweise auf den Kopf stellen würde. Aber das ist nicht Ihr Forschungsinteresse. Daran entzündet sich die Kritik.

Jürgen Zimmerer:
Ich habe ausführlich dargelegt, dass der Antisemitismus sich vom Kolonialrassismus darin unterscheidet, dass man die Juden als Bedrohung wahrnahm. Dass der Antisemitismus sich aus einem Unterlegenheitsgefühl entwickelte, was für den Kolonialrassismus nicht festzustellen ist. Was soll ich denn machen, wenn niemand die Texte genau liest?

Birthe Kundrus:
Im Bereich der tatsächlichen Wiedererlangung von Kolonien würde ich durchaus Kontinuitäten feststellen. Da findet sich Ritter von Epp, der dann immer wieder als “Depp” diffamiert worden ist. Diese Kontinuitäten sind aber auch immer mit Brüchen innerhalb der Ziele der Nationalsozialisten versehen. Der Wunsch, wieder an Kolonien zu gelangen, richtet sich nicht mehr auf die “alten” deutschen Kolonien, sondern auf Mittelafrika oder Madagaskar. Man glaubt, der Sieg über Frankreich liefere automatisch dessen Kolonien mit. Auch da mischt sich immer Altes mit Neuem.

Der Begriff des Transfers meint jedoch noch eine andere Idee: Transfer bedeutet, dass aus einem anderen Diskurs, aus einem anderen inhaltlichen Zusammenhang Momente übertragen werden. Aus der kolonialen Kriegführung wird in die Kriegführung gegen die Sowjetunion z.B. die Nichtunterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten übernommen. Oder die Ausrottung der Native Americans in den USA wird von den Nationalsozialisten als Legitimationsmuster aufgegriffen. Hitler sagte: “Wir müssen es nur machen wie die Amerikaner damals mit den Indianern.” Das ist auf der einen Seite eine Drohung gegenüber der jüdischen Bevölkerung, auf der anderen eine historische Legitimation, die er einzuholen versucht. Das ist der Transfer dabei.

Gleichzeitig hat ein Transfer aber immer ein Moment von Produktion. Es ist nicht nur eine Aneignung, nicht nur eine Eins-zu-eins-Kopie, sondern hier wird auch etwas seitens der Nationalsozialisten “produziert” und mit eigenen Ideen, mit eigenen Vorstellungen aufgeladen. Das Transferierte verändert sich im Prozess dieser Übersetzung. Das ist auch die eigentliche Herausforderung für weitere Forschung: Warum werden gerade bestimmte Momente aus der jahrhunderte langen Kolonialgeschichte ausgewählt und von nationalsozialistischen Akteuren für bestimmte Zwecke eingesetzt? Das wäre eine wirklich innovative Nutzung dieses “colonial archives”.

Laetitia Lenel:
Herr Zimmerer, Sie wollen eine Verbindung aufzeigen, aber keinesfalls eine lineare Bestimmtheit der Geschichte. Und auch Sie, Frau Kundrus, wollen von Transfers sprechen, also von existierenden Verbindungen. Worüber diskutieren Sie dann? Man kann doch mit Sprache exakt ausdrücken, was man meint. Was ist denn der Kern ihrer Auseinandersetzung? Geht es wirklich nur um Begriffe?

Birthe Kundrus:
Es gibt sicherlich einen großen Streitpunkt zwischen uns, der lautet: Wie sinnvoll ist der Genozidbegriff? Sollten wir uns davon lösen? Der zweite Punkt ist die Frage nach der Bedeutung des deutschen Kolonialismus für die deutsche Geschichte. Das ist gestern für mich etwas ungelöst geblieben, denn wenn wir sagen, dass Kolonialismus eigentlich ein europäisches Phänomen ist, dann lösen wir uns von dieser sehr stark nationalgeschichtlichen Betonung.

Das sind die beiden Punkte, an denen ich sagen würde: Wir müssen gar nicht so defensiv argumentieren und den Kolonialismus über einen Vergleich mit Auschwitz oder dem Dritten Reich aufwerten. Lassen Sie uns doch offensiv sein und sagen: Es hat den Kolonialismus gegeben, und wir müssen akzeptieren, dass er bis heute Folgen hat. Diese liegen vielleicht nicht auf den von Ihnen vermuteten Gebieten, aber wir müssen die Bedeutung des Kolonialismus nicht nur durch eine Verbindung mit dem NS hervorheben. Gerade, weil er bisher ein marginalisiertes Phänomen der deutschen Geschichte ist, wie Herr Zimmerer das eingangs richtig gesagt hat.

Laetitia Lenel:
Herr Zimmerer, ich kann Ihnen nicht ganz folgen, wenn Sie betonen, dass die Verbindungslinien nicht übersehen werden dürfen, sich aber andererseits ständig falsch verstanden fühlen und sagen: Ich will doch gar keine Verbindungslinie aufzeigen. Was ist denn der Unterschied?

Jürgen Zimmerer
Eine Debatte ist ein Prozess. Wenn sie offen und intellektuell redlich geführt wird, dann verändern sich in diesem Prozess Positionen. Wenn ich Frau Kundrus’ Argumentation höre bezüglich Transfer als intentionaler Prozess: Eine so direkte intentionale Übernahme des Kolonialismus hätte ich niemals zu behaupten gewagt. Sie postulieren mit dem Transfer eigentlich eine viel “bewusstere” Übernahme als das, was ich skizziert habe. Das zeigt, wie sich diese Debatten verändern. Es geht mir darum, die Verbindungslinien aufzeigen, ohne es kausal, monokausal oder linear zurückzuführen auf den deutschen oder europäischen Kolonialismus.

Der Kern der Debatte war am Ausgangspunkt, dass jemand für eine Neubewertung des Nationalsozialismus eintritt. Und das wurde aus verschiedenen wissenschaftlichen und politischen Gründen abgelehnt. Mein Buch “Von Windhuk nach Auschwitz” ist noch nicht einmal erschienen und wird schon niedergemacht. Als die ersten Attacken kamen, gab es den Titel noch gar nicht. Es ist also nicht wahr, dass alles ein Missverständnis ist, weil ich diesen Buchtitel gewählt habe.

Wenn ich mittlerweile von Ulrich Herbert höre: “Der Krieg im Osten war ein Kolonialkrieg”: Vor sieben Jahren hier in Freiburg habe ich das noch nicht so gehört. Auch da gibt es eine Entwicklung in der Debatte. Das ist ja auch gut so.

David Bexte:
Wäre es nicht interessant, sich beim Vergleich des Kolonialismus mit dem Nationalsozialismus noch stärker auf die 1920er Jahre zu konzentrieren? Zu untersuchen, wie sich Konzepte in der Zwischenkriegszeit weiterentwickelt haben, die bereits im Kolonialismus Anklang fanden? Und daraus vielleicht erklären zu können, warum Kolonialismus sich auch im Nationalsozialismus wieder findet? Auch diese Frage bleibt: Wenn Kolonialismus als europäisches Phänomen zu sehen ist, gibt es dann noch einen spezifischen deutschen Kolonialismus?

Birthe Kundrus:
Hier würde ich wieder sagen: Die Forschung ist, was koloniale Kriegführung angeht, eher in einem internationalen Rahmen zu sehen. Es ist herauszufinden, was die Kolonialmächte aus ihren Kolonialkriegen in den Ersten Weltkrieg hinein transportiert haben, und was dann in der Zwischenkriegszeit passiert ist. Da spielt Deutschland keine so große Rolle. Beispielsweise wird gerade diskutiert, inwiefern der Bombenkrieg, der 1911 das erste Mal in Nordafrika gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt wurde, als Mittel im Ersten Weltkrieg auf den europäischen Schauplatz zurückkehrte. Durch die Briten wurde er dann wieder im Irak eingesetzt, und so weiter. Diese Wanderbewegungen werden jetzt nachvollzogen.

Das Militär als ausübende Institution von solchen Gewaltaktionen in Kriegen rückt immer mehr in den Mittelpunkt der transnationalen Geschichtsforschung, auch in institutionsgeschichtlicher Perspektive. Wie gehen militärische Einrichtungen eigentlich mit ihren Gewalterfahrungen um? Wie sehr stützen sie sich nicht unbedingt auf direkt gemachte Erfahrungen, sondern auf “Auswertungen” dieser Erfahrungen in anderen Ländern? Es gab ein Reservoir internationalen Wissens, das die Deutschen für sich nutzbar machen konnten.

Jürgen Zimmerer:
Sie meinten das wohl nicht so, aber Sie sagten: Der Kolonialismus endet, und dann kommt die Weimarer Republik. Der Kolonialismus endet jedoch nicht, er dauert bis heute an. Nur als Hinweis darauf, dass wir automatisch in nationalgeschichtlichen Schablonen denken. Selbst der deutsche Kolonialismus läuft nach 1918 weiter, der internationale auf jeden Fall. Das Problem ist unsere Vorstellung von Kolonialismus. Kolonialverbrechen, die in den Kolonien begangen wurden, sind natürlich auch Verbrechen einer deutschen, französischen, britischen Bürokratie, Armee, etc. Austauschprozesse, da würde ich völlig übereinstimmen, sind dabei vorhanden. Denn es ist ja der Generalstab in Berlin oder es ist eine preußische Militärtradition, die die Franktireurs bekämpft im Krieg von 1870/71, und die später die Herero bekämpft.

Ein gutes Beispiel für den Hererokrieg ist C.E. Calwells Buch “Small Wars”, das Standardhandbuch der britischen Armee für Guerillabekämpfung:In der Auflage von 1906 sind bereits zwei Absätze über den Hererokrieg zu finden, in denen der Autor von Trotha ein totales Versagen attestiert. Die Briten schickten damals sofort einen Militärattache in den Kommandostab von Trothas, der beobachten sollte: Wie gehen die Deutschen mit der Situation um? Sie hatten ja ein Problem, das auch in britischen Kolonien auftauchen kann. Wir haben es hier also mit Lernprozessen, Austauschprozessen – und wenn Sie so wollen Transferprozessen – zu tun.

Eine globale Gewaltgeschichte muss kontinentübergreifend argumentieren. Sie kann nicht Ereignisse ignorieren, weil sie nicht in Europa stattfinden. Es müssen also – um die extremste Bandbreite aufzuzeigen – Phänomene wie die “frontier violence” von Siedlermilizen in Australien oder Colorado und der Ostkrieg in einem Begriff zusammengebracht werden. Und erst wenn sich herausstellt, dass das überhaupt nicht machbar ist – und ich glaube, dass es machbar ist -, dann kann man weiterdenken. Zunächst muss man es aber global begreifen, und wir begreifen es immer noch viel zu sehr national.

Das kann man schon an der Frage sehen, wann eigentlich der Zweite Weltkrieg beginnt. Wir denken meist 1939. Aber aus chinesischer Sicht ist es 1937. Die Zeit, in der Europa und Nordamerika die weltweiten Curricula bestimmten, dürfte sich definitiv dem Ende zuneigen. Die Globalgeschichte und die globalisierte Geschichte werden kommen, ob wir das akzeptieren oder nicht.

Darum geht es eigentlich im Kern, und da ist glaube ich auch das fruchtbare und in die Zukunft weisende Element dieser Debatten. Es geht eben nicht um den deutschen Kolonialismus. Ich glaube – und da unterscheiden Frau Kundrus und ich uns – dass der Hererokrieg kein Kolonialkrieg war wie jeder andere. Darin liegt auch die Bedeutung des Genozidbegriffs. Von mir aus benutzen Sie ein anderes Wort, aber es gibt nicht viele Kolonialkriege, in denen über vier Jahre mit Rückendeckung der höchsten Militärs zwei ethnische Gruppen komplett vernichtet werden sollten. Das ist etwas Besonderes. Das steht zwar in einer Tradition der europäischen Kolonialkriege vorher, das strahlt aus in die Kolonialkriege nachher, es strahlt auch aus in die europäischen Kriege. Aber es ist schon etwas Spezifisches. Auch wenn man sich den Kolonialismus in Deutsch-Südwest allgemein anschaut, finden sich dort Spezifika, die es in britischen, französischen oder portugiesischen Kolonien nicht gab.

Transkription: Fabian Holzheid. Redaktionelle Bearbeitung: Fabian Holzheid/ Christian Stock




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